Julia Ducournau erhielt für den Film "Titane" den Hauptpreis in Cannes.

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Titanen waren in der griechischen Mythologie Riesen in Menschengestalt, mit denen ein neues Zeitalter begonnen hat. Mit Titane, dem Titel ihres am Samstag mit der Goldenen Palme in Cannes prämierten Films, verweist Julia Ducournau auf diese Zäsur. Auch sie erzählt von der Geburt eines neuen Geschlechts, von einer Menschlichkeit, die das binäre Denken über den Haufen wirft.

Ein wenig titanenhaft erscheint die großgewachsene Französin auch selbst: 28 Jahre nach Jane Campions Triumph in Cannes ist die 37-jährige Ducournau nun die (erst) zweite Frau mit Palmen-Adel. Dabei sind ihr solche Zuschreibungen eher unangenehm. Dem Online-Magazin Indiewire sagte sie unlängst, ihr wandelbares Ich, nicht die Identität als Frau führe bei ihr Regie.

Neue Tendenz

Titane war heuer einer der kontroversiellsten Filme im Aufgebot, eine vibrierende Mischung aus Horrorfilm und fluidem Identitätsdrama, das mit stilisierter roher Gewalt und verquerer Romantik positiv irritierte. Thematisch erobert Ducournau damit kein Neuland, sondern baut ihre Vorstellung von Kino konsequent aus. Nach ihrem Debüt Raw, einem kannibalistischen Coming-of-Age-Drama, war sie als Nachwuchsregisseurin für Größeres gesetzt. Davor erzählte sie schon im Kurzfilm Junior von einem Tomboy, der zaghaft seine feminine Seite entdeckt. Die Filmemacherin steht für eine neuere Tendenz im französischen Kino ein, die Genrekino auch mit rezenter Theorie, diesmal Gender- und Transhumanitätsdebatten, zusammendenkt.

Vielseitig sind die kulturellen Einflüsse, die die an der Paris Filmhochschule La Fémis ursprünglich im Drehbuchbereich ausgebildete Regisseurin anführt: das avancierte Körperhorrorkino von David Cronenberg, aber auch eine Künstlerin wie Nan Goldin, deren so unmittelbar wirksame Fotografien Ducournau bewundert.

Körperhorror

Ihre Begeisterung für das Monströse in uns, die Rätsel und Mutationen des menschlichen Körpers führt sie auf die Prägung durch ihre Eltern zurück, die beide Ärzte sind. Deren ernsthafter, distanzierter Ton im Sprechen über Krankheit und Tod findet in eine Bildästhetik Eingang, die das Außergewöhnliche für selbstverständlich nimmt.

Ducournau, in Frankreich verwurzelt, schließt nicht aus, dass sie ihre Genreüberschreitungen auch einmal in den Vereinigten Staaten weiterführt. Die Goldene Palme aus der Hand von Spike Lee hat auch dieses Tor nun weit geöffnet. (Dominik Kamalzadeh, 18.7.2021)