"Mit dieser verrückten, aber einflussreichen neoliberalen Ideologie werden wir den Wandel nicht schaffen", sagt EU-Kommissar Nicolas Schmit zur Klimakrise. Der Luxemburger ist in der Kommission für soziale Rechte und Arbeit zuständig.

Foto: Regine Hendrich

Vergangenen Mittwoch stellte die EU-Kommission ein ambitioniertes Klimapaket vor. Bis 2030 sollen klimaschädliche Emissionen um mindestens 55 Prozent sinken. Fünf Jahre später sollen in der EU dann auch keine Verbrennungsmotoren mehr neu zugelassen werden. Darüber hinaus sollen Gebäude saniert und möglichst emissionsarm werden. Das kostet, weiß der EU-Kommissar Nicolas Schmit. Er ist für soziale Rechte und Arbeit zuständig und warnt davor, die Kosten der Klimapolitik den Ärmsten aufzubürden. Am Freitag war der Luxemburger in Wien.

STANDARD: CO2 auszustoßen soll teurer werden, auch im Verkehr oder beim Heizen. Ein neues E-Auto kostet aber viel Geld, eine klimafreundliche Heizung auch. Sind ärmere Haushalte die großen Verlierer beim Green Deal?

Schmit: Ob der Emissionshandel auf Transport und Wohnungen ausgeweitet werden soll, wurde lange debattiert. Genau aus diesem Grund: Menschen mit kleinen Einkommen und wenig Alternativen riskieren, abgehängt zu werden. Ziel der Maßnahme ist, dass man die Menschen über den Preis dazu bringt, keinen CO2-Ausstoß zu verursachen.

STANDARD: Haben Sie ein E-Auto?

Schmit: Nein, aber ich überlege, eines zu kaufen. Damit das für alle Menschen eine Option ist, muss man versuchen, die Kosten des Green Deal irgendwie auszugleichen. Instrumente wie der Emissionshandel sollen keine neue Steuer sein, sondern bloß auf das Verhalten einwirken. Ein Teil der Verbraucher soll das Geld also wieder zurückbekommen, deshalb sieht der Green Deal einen Sozialklimafonds vor. Damit werden Subventionen – wie zum Beispiel für E-Autos – und andere einkommensstützende Maßnahmen finanziert.

STANDARD: Wenn der Vorschlag so durchgeht. Er muss ja noch vom EU-Parlament und den Mitgliedsstaaten diskutiert werden.

Schmit: Wir werden sehen, was aus dem Vorschlag wird. Für mich ist ganz klar: Maßnahmen wie den Emissionshandel darf es nur geben, wenn es auch soziale Begleitmaßnahmen gibt. Es wäre unverantwortlich, Menschen zu bestrafen und ihr Lebensniveau zu senken für eine Sache, für die sie nichts können und gegen die sie direkt nichts unternehmen können. Wir brauchen einen sozialen Ausgleich in diesem Paket, sonst wird der Green Deal nicht funktionieren. Sonst werden die Menschen das nicht akzeptieren.

STANDARD: Die Kommission schlug im Klimapaket etwas mehr als 70 Milliarden Euro für den sozialen Ausgleich vor. Reicht das?

Schmit: Eigentlich müssten wir so viel auszahlen, wie wir mit dem Emissionshandel einnehmen. Um diese Summe steigt nämlich die finanzielle Belastung für die Haushalte. Firmen, die Emissionsrechte kaufen, werden die nicht selbst bezahlen, sondern die Kosten an die Konsumenten weitergeben. Der Emissionshandel soll erst 2026 in Kraft treten, wir wissen heute nicht, wie hoch der CO2-Preis in sechs Jahren sein wird.

Die Zukunft Europas ist nicht rosig, wenn der Green Deal scheitert.
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STANDARD: Budgetkommissar Johannes Hahn stimmte als einziges Kommissionsmitglied gegen das Paket, weil seiner Ansicht nach die Finanzierung nicht geklärt ist, wie er im STANDARD-Interview zuletzt erklärte. Hat die EU genügend Eigenmittel, um neben massiven Investitionen auch noch den sozialen Ausgleich zu schaffen?

Schmit: Ich habe Verständnis dafür, dass die Situation bei den Eigenmitteln als problematisch gesehen wird. Wir müssen hier eine Lösung finden. Die Summen, die wir in die grüne Wende investieren müssen, sind enorm. Sie können nicht nur aus öffentlichen Töpfen kommen. Der soziale Ausgleich ist nur ein Teil der notwendigen Investitionen, Industrien müssen ihre Werke umrüsten und in neue Technologien investieren, die Mittel dafür werden zu großen Teilen auch aus privaten Quellen kommen müssen. Aber an Geld fehlt es eigentlich nicht. Am Markt steckt genügend Kapital in allen möglichen Spekulationen. Wir müssen dafür sorgen, dass dieses Geld jetzt in den wirtschaftlichen Umbruch geleitet und investiert wird. Das ist die große Herausforderung und entscheidend für die Frage, ob wir den Green Deal meistern oder nicht – was eine Katastrophe wäre.

STANDARD: Kapital verlangt Rendite, am besten kurzfristig. Wie wollen Sie es in langfristige Klimainvestitionen lenken?

Schmit: Es scheint sich einiges zu bewegen. Die EU-Anleihen, mit denen jetzt Geld aufgenommen wird, haben sehr niedrige Zinssätze, sind aber zehnmal überzeichnet. Die Nachfrage nach Green Bonds ist groß. Ich bin optimistisch, dass sich dieser Trend verbreitert. Das System entwickelt ein Bewusstsein dafür, dass es Korrekturen braucht. Mit dem Klima können wir nicht verhandeln. Jeder sieht, was der Klimawandel macht: Überschwemmungen in Mitteleuropa, Hitzewellen in Kanada. Ich glaube schon, dass es gerade einen Bewusstseinswandel gibt. Wir laufen der Erderwärmung hinterher, eigentlich haben wir keine Zeit mehr. Deshalb müssen wir die Emissionen in so einem kurzen Zeitraum so stark reduzieren. Wir wissen, dass es nicht genügt, wenn Europa das allein macht. Aber auch in China und den USA wird man nicht so weitermachen wie bisher.

STANDARD: Was macht Sie so zuversichtlich, dass die Menschen weltweit umdenken?

Schmit: Nehmen Sie die globale Steuerreform. Keiner hätte geglaubt, dass eine Mindeststeuer für große internationale Unternehmen möglich ist. Aber man hat sich darauf geeinigt. Es gibt einen Paradigmenwechsel, der sich langsam durchsetzen wird. Wir haben diese verrückte, aber einflussreiche neoliberale Ideologie des schnellen Gewinns, mit der wir den Wandel nicht schaffen werden. Jetzt entsteht das Bewusstsein, dass die Gefahren, denen wir ausgesetzt sind, so groß sind, dass wir einen Systemwandel brauchen.

STANDARD: Ist das ein positiver Nebeneffekt der Klimakrise?

Schmit: Nein. Es gibt nichts Positives daran, wenn der Klimawandel Überschwemmungen oder extreme Hitze verursacht. Er ist eine Katastrophe, und man muss aus ihm die richtigen Schlüsse ziehen, damit er nicht eine noch größere Katastrophe wird.

STANDARD: Läuft die EU Gefahr auch wegen der großen Herausforderungen im Kampf gegen den Klimawandel auseinanderzudriften?

Schmit: Wir müssen den Menschen helfen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Dafür gibt es europäische Gelder. Aber die EU kann den sozialen Ausgleich nicht alleine bewerkstelligen, die Mitgliedsstaaten müssen mitziehen.

STANDARD: Was wären konkrete Ansätze?

Schmit: Die Menschen müssen etwa die Möglichkeit bekommen, mit den Entwicklungen am Arbeitsmarkt schrittzuhalten, auch im Zusammenhang mit Digitalisierung und Ökologisierung. Ein Beispiel: Ab 2035 sollen keine Verbrenner mehr zugelassen werden, das bedeutet eine riesige Umstellung für die europäische Automobilbranche. Wenn man davon ausgeht, dass jeder zweite Arbeitnehmer umgeschult werden muss, sind das sieben Millionen Menschen. Gleichzeitig müssen wir auch darauf achten, wie sich das Lohngefüge in unseren Gesellschaften entwickelt – sowohl innerhalb einzelner Länder als auch zwischen den Ländern. Es gibt in Europa eine zu große Diskrepanz bei den Löhnen, das müssen wir bekämpfen.

Sozialkommissar Nicolas Schmit sieht keine Alternative zum Green Deal. Der Klimawandel sei längst eine Katastrophe. Man müsse schauen, dass er nicht zu einer noch größeren Katastrophe wird.
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STANDARD: Wie?

Schmit: Mindestlöhne müssen adäquat sein. Es hängt von jedem Staat ab, das zu bestimmen. Menschen müssen von dem Lohn ihrer Arbeit würdevoll leben können. Das ist nicht immer der Fall in Europa. Aber Mindestlöhne allein werden das Problem nicht lösen. Wir brauchen auch eine neue Dynamik was Löhne anbelangt, besonders in den Ländern wo keine oder sehr wenig Tarifpolitik gelingt. Wir müssen darüber reden, wie wir Sozialpartner stärken können. Ein anderes Projekt, das wir letztens aufgelegt haben, widmet sich der Kinderarmut. Armut wird vererbt. Arme Kinder können schon in der Schule oft nicht mithalten und sind beim Berufseinstieg benachteiligt. Deshalb sollte Armutsbekämpfung auch bei den Kindern ansetzen. Für unsere Kindergarantie, die jeder Mitgliedsstaat umsetzen soll, gibt es auch EU-Gelder.

STANDARD: Wie viel?

Schmit: Keine riesigen Summen, aber wir sollten zum Beispiel bis zu fünf Milliarden aus dem Europäischen Sozialfonds aufbringen. Das ist ein Anfang. Wir werden versuchen, das sehr energisch anzugehen. Jeder Staat muss einen Plan vorstellen, wie er Kinderarmut bekämpfen will. Nicht nur die ärmeren Staaten, wo Kinderarmut sehr präsent ist, sondern auch die reichen Staaten. Kinderarmut gibt es überall, sogar in Luxemburg. Jeder Staat muss sich bewusst sein, dass die Kinder, die mit dem Armutsrisiko leben, benachteiligt sind und für die Gesellschaft ein Problem werden können. (Renate Graber, Aloysius Widmann, 19.7.2021)