Wer die Hochwasserschäden in Deutschland beseitigt, steht nicht zur Debatte. Sehr wohl aber, ob man auf Wetterwarnungen richtig reagiert hat.

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Deutsche Politiker sagten schnelle und unkomplizierte Hilfe für die Flutschäden zu. Im Bild: Insul im Ahrtal.

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Berchtesgaden/Berlin/Koblenz/Düsseldorf – Vier Tage nach den verheerenden Unwettern in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen ist die Zahl der Todesopfer in Deutschland auf fast 160 gestiegen. Allein im Kreis Ahrweiler kamen nach Polizeiangaben mindestens 117 Menschen ums Leben, 749 wurden verletzt. In Nordrhein-Westfalen lag die Zahl der bestätigten Todesopfer am Sonntagabend bei 46, darunter vier Feuerwehrleute. Auch in Belgien stieg die Zahl der Todesopfer auf mindestens 31, nach 163 Vermissten wird noch gesucht. Indes entflammte eine Debatte über die politische Verantwortlichkeit beim Katastrophenschutz – SPD, Linke und FDP orteten Versäumnisse und forderten Konsequenzen.

Die Rettungsarbeiten seien eingestellt, erklärte das Krisenzentrum der belgischen Regierung am Sonntagabend. Im Mittelpunkt stünden nun zudem die Aufräumarbeiten und die Abschätzung der materiellen Schäden. In den besonders betroffenen Regionen im Süden und Osten des Landes gehen Polizisten von Tür zu Tür, um mögliche weitere Hochwasseropfer zu finden. Viele Menschen hätten keine Möglichkeit zu telefonieren oder ihr Handy aufzuladen, erklärte das Krisenzentrum.

Laschet: "Wiederaufbau dauert Jahre"

Bei der schwersten Hochwasserkatastrophe in Deutschland seit Jahrzehnten wurden viele Häuser zerstört. Brücken, Straßen und Bahnstrecken liegen in Trümmern. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) geht davon aus, dass sich der Wiederaufbau nach der Flutkatastrophe lange hinziehen wird. "Der Wiederaufbau wird Monate, ja Jahre dauern", sagte der Kanzlerkandidat der Union am Sonntag.

In Erftstadt westlich von Köln suchen zahlreiche Menschen noch nach ihren Angehörigen. Bisher wurden nach Angaben der Stadt bei der Personenauskunftsstelle 59 Menschen gemeldet, deren Aufenthaltsort ungewiss ist. 16 davon kämen aus Erftstadt. Im Stadtteil Blessem wollten Fachleute am Sonntag die Stabilität des Untergrunds prüfen. In Blessem war durch die Fluten ein riesiger Krater entstanden. Mindestens drei Wohnhäuser und ein Teil der Burg stürzten ein.

Überschwemmungen in Sachsen

Immense Regenfälle verursachten am Samstag auch in Teilen Sachsens Überschwemmungen und Erdrutsche. Örtlich fielen innerhalb von 24 Stunden mehr als 100 Liter pro Quadratmeter. In der Sächsischen Schweiz waren mehrere Ortslagen von Städten und Gemeinden vorübergehend nicht erreichbar. Die Bahnstrecke zwischen Bad Schandau und dem tschechischen Děčín – Teil der Verbindung Berlin–Dresden–Prag – wurde gesperrt. Am Sonntag entspannte sich die Lage.

Kurz vor der Ortschaft Berchtesgaden in Bayern wurde die Bundesstraße von der Ramsauer Ache zur Hälfte weggerissen.
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Im Hochwassergebiet im Berchtesgadener Land waren nach offiziellen Angaben 890 Hilfskräfte in den besonders betroffenen Orten im Einsatz. "Fahrzeuge auf den Straßen wurden zum Spielball der Wassermassen", berichtete ein Einsatzleiter. In der Region wird weiter nach Toten und Verletzten gesucht, sodass sich die Opferzahl noch weiter erhöhen könnte. Strom- und Telefonleitungen sind teils unterbrochen. Zwei Menschen kamen ums Leben. Ein Opfer starb dem Landkreis zufolge an einer natürlichen Ursache. Aber auch das könne mit dem Unwetter zusammenhängen.

Finanzhilfen sollen kommen

"Wir stehen an Ihrer Seite, Bund und Land", sagte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) indes bei einem Besuch in Adenau im Kreis Ahrweiler. Bund und Land würden dabei Hand in Hand arbeiten.

DER STANDARD

Laschet, der am Samstag mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Katastrophengebiet in Erftstadt besucht hatte, versprach den Betroffenen Direkthilfe und sagte zu, dass "sehr unbürokratisch Geld ausgezahlt" werde. Steinmeier hatte zu Solidarität und Spenden aufgerufen. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) stellte Soforthilfen in dreistelliger Millionenhöhe in Aussicht.

Zu spät reagiert?

Unterdessen ist nicht nur eine Debatte über mehr Klimaschutz in der deutschen Politik entflammt – höhere Temperaturen lassen Extremwettersituation nach der Einschätzung vieler Expertinnen und Experten häufiger auftreten –, es geht auch um die unmittelbare politische Verantwortlichkeit. Nach Angaben des nordrhein-westfälischen Innenministeriums sei das Unwetter nämlich nicht überraschend gekommen. Amtliche Warnungen vor extremem Unwetter hätten sich am vergangenen Montag um 10.28 Uhr konkretisiert, berichtete die "Bild" am Sonntagabend unter Berufung auf das Ministerium. Alle amtlichen Warnungen seien an die Leitstelle der Kreise und der kreisfreien Städte zugestellt worden. Die konkreten Vorbereitungen, die ein Kreis oder eine kreisfreie Stadt auf Grundlage der amtlichen Wetterwarnungen treffe, lägen aber in deren eigenem Ermessen.

Als Innenminister muss sich Horst Seehofer (CSU) nun Kritik gefallen lassen: Wurde zu spät reagiert?
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Da ein solches Ereignis abzusehen gewesen sei, sei am Dienstag eine "Landeslage" eingerichtet worden, zitierte "Bild" das Ministerium weiter. Damit habe man frühzeitig erkennen wollen, ob in einem Kreis oder einer kreisfreien Stadt überörtliche Hilfe benötigt werde. Nun gelte es, "diesen Katastrophenfall grundlegend aufzuarbeiten und erforderliche Schlussfolgerungen zu ziehen, wie man sich in Zukunft gemeinschaftlich besser schützen und vorbereiten kann".

In der "Sunday Times" meldete sich eine Entwicklerin des Europäischen Hochwasser-Warnsystems (Efas) zu Wort: Bereits neun Tage vor der Katastrophe sei die Entwicklung von Satelliten erfasst gewesen. Vier Tage vor den Fluten wurden die Regierungen Deutschlands und Belgiens gewarnt. 24 Stunden vorher konnte präzise vorhergesagt werden, welche Gebiete von den Wassermassen betroffen sein würden, darunter Gebiete an der Ahr.

Forderung nach politischen Konsequenzen

Die Linke hatte zuvor erklärt, sie fordere angesichts gravierender politischer Fehler den Rücktritt von Bundesinnenminister Seehofer. Auch die FDP warf Seehofer schwere Versäumnisse beim Bevölkerungsschutz vor. Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach konstatierte, dass Deutschland beim Katastrophenschutz genauso schlecht vorbereitet sei wie beim Pandemieschutz. Auch er forderte, Konsequenzen aus den Erfahrungen bei der Flutkatastrophe zu ziehen.

Die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, sprach sich dafür aus, dass der Bund eine größere koordinierende Rolle bei überregionalen Katastrophen wie Fluten oder Waldbränden bekommt. "Der zweite Punkt ist, dass wir Klimaanpassungsmaßnahmen brauchen", sagte sie im ARD-"Morgenmagazin". Im "Spiegel" sagte Baerbock: "Hilfe funktioniert nur, wenn alles ineinandergreift. Dafür braucht es eine Instanz, die alle Kräfte bündelt, die schnellstmöglich aus ganz Deutschland oder EU-Nachbarstaaten Hubschrauber oder Spezialgeräte zusammenzieht." Auch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) forderte am Sonntag im "Bild live"-Politiktalk "Die richtigen Fragen" Aufklärung, ob der Katastrophenschutz ausreichend funktioniert habe. Es gehe nicht um Schuldzuweisungen.

Seehofer weist Kritik zurück

Die deutsche Regierung hat die Vorwürfe zurückgewiesen, wonach die Bevölkerung in den Hochwassergebieten zu spät informiert worden sei. Eine Regierungssprecherin verwies am Montag auf die gemischte Zuständigkeit von Bund, Ländern und Gemeinden bei der Katastrophenhilfe. "Mir sagt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, dass die Meldewege funktioniert haben", meinte zudem der deutsche Innenminister Horst Seehofer bei einem Besuch in den Flutgebieten.

Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) räumte am Sonntagabend indes Verbesserungsbedarf beim Katastrophenschutz in seinem Bundesland ein. Man werde natürlich darüber nachzudenken haben, wie man Warnsysteme verbessern könne, etwa wie man jene erreichen könne, die keine Warn-App vor Unwetterkatastrophen hätten, sagte Reul. Auch bei der Koordination der Katastrophenhilfe sei "wahrscheinlich noch einiges zu tun". Der Minister lehnte aber eine Zentralisierung des Katastrophenschutzes in Berlin ab. (APA, Reuters, red, 19.7.2021)