"Ich brenne, ich kann nicht mehr, ich habe 120 Prozent gegeben, rufen Sie den Arzt, warum glauben Sie mir nicht, rufen Sie den Doktor! Ich brenne, ich sterbe." Dass der Gruppenkommandant dieses Flehen des 2017 bei einem unzulässigen Hitzemarsch in Horn (Niederösterreich) ums Leben gekommenen Bundesheerrekruten ignorierte, ihn stattdessen angeschrien hat weiterzugehen und der Grundwehrdiener erst eineinhalb Stunden später in das Krankenhaus gebracht wurde, wo er verstarb, war für die österreichische Justiz kein Grund für strafrechtliche Konsequenzen; und für Bundesheer und Verteidigungsminister kein Grund für disziplinarrechtliche. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) hat nun das Verfahren gegen Österreich eröffnet (A.P. v Austria).

Weniger als zehn Prozent aller EGMR-Beschwerden schaffen es in dieses Stadium, in dem die Bundesregierung nun Gelegenheit erhält, die Vorfälle zu rechtfertigen. Insbesondere auch, warum die Justiz das von der Mutter des Rekruten vorgelegte Gutachten eines renommierten Infektiologen und Notfallmediziners ignoriert hat und ausschließlich dem Gutachter der Staatsanwaltschaft – der weder Infektiologie noch Notfallmediziner ist – gefolgt ist, ohne ein Obergutachten einzuholen.

Trotz Flehens zum Weitermarschieren gezwungen

Der Hitzemarsch war aufgrund des Hitzeerlasses des Verteidigungsministers unzulässig. Überdies hat der Gruppenkommandant vor Ort, entgegen dem Hitzeerlass, nicht sofort bei Auftreten der ersten Krankheitssymptome ärztliche Hilfe gerufen, sondern den Rekruten mehr als 20 Minuten angeschrien und zum Weitermarschieren gezwungen. Danach hat er immer noch keine ärztliche Hilfe geholt, sondern seine Vorgesetzten, die ebenfalls keine ärztliche Hilfe gerufen, aber den Soldaten mit einem Pritschenwagen abgeholt und in die Kaserne gebracht haben. Dort wurde er bei extremer Hitze in der prallen Sonne auf den Kasernenboden gelegt. Erst jetzt wurden Notarzt und Rettung verständigt. Durch das rechtswidrige Verhalten des Gruppenkommandanten und seiner Vorgesetzten wurde die ärztliche Hilfe und damit die Einlieferung in das Krankenhaus um rund eine Stunde verzögert, wodurch die Todeswahrscheinlichkeit erheblich erhöht worden ist.

Dennoch hat sich die Staatsanwaltschaft geweigert, gegen den Gruppenkommandanten Ermittlungen aufzunehmen und ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Die Ermittlungsverfahren gegen seine Vorgesetzten wiederum wurden ebenso eingestellt wie jenes gegen den Kasernenkommandanten (wegen der Anordnung des Hitzemarsches). Der Tod des Rekruten blieb straflos. Die Verantwortlichen wurden nicht zur Rechenschaft gezogen, nicht einmal disziplinarrechtlich.

Obwohl selbst die Untersuchungskommission des Militärkommandos Niederösterreich festgestellt hat, dass ein derartiger Marsch (im Rahmen des Gefechtsdienstes) seit 2015 (!) in den Ausbildungsrichtlinien gar nicht mehr vorgesehen ist, also die Ausbildungsrichtlinien verletzt wurden, und dass Hitzemärsche nur in erforderlichen Ausnahmefällen zulässig sind, "zum Beispiel Wetterumsturz bei Alpinausbildung und Abstieg/Marsch ins Tal, kurze Märsche von und zu nur zu Fuß erreichbaren Ausbildungsorten für Ausbildungen, welche auch bei extremen Außentemperaturen durchgeführt werden können". Am Tag des Horner Hitzemarsches lag kein einziger solcher Ausnahmefall, auch nur im Entferntesten, vor.

2017 starb ein Grundwehrdiener nach einem Hitzemarsch. Nun hat der EGMR das Verfahren gegen Österreich eröffnet.
Foto: APA / Georg Hochmuth

Hitzeerlass: Vorbehaltlos Glauben zu schenken und einem Arzt vorzuführen

Der Erlass des Verteidigungsministers vom 15.9.2011 (VBl I Nr. 45/2014) ("Hitzeerlass") bestimmt, dass extreme Temperaturen dann vorliegen, wenn um 12 Uhr plus 28 Grad Celsius im Schatten erreicht werden und dann die folgenden Richtlinien einzuhalten sind:

a) Bei Erwartung extremer Temperaturen ist die entsprechende Adjustierung und Ausrüstung bereits vor Dienstbeginn zu befehlen

b) Anzugserleichterungen, Unterbrechung der Ausbildung bei großer Hitze

c) Vermeiden von Fußmärschen vor allem in offenem und unbedecktem Gelände in den heißen Tagesstunden

d) sofern verfügbar, ist bei der Ausbildung außerhalb der Kaserne die Teilnahme von ausgebildetem Sanitätspersonal in notwendigem Ausmaß sicherzustellen

e) von der Möglichkeit der Vorverlegung der Ausbildung der tagsüber zu erwartenden Hitzebelastung auszuweichen, ist weitgehend Gebrauch zu machen.

Bei extremen Temperaturen ist zudem "der Meldung eines Untergegebenen über seinen körperlichen Zustand (...) vorerst vorbehaltlos Glauben zu schenken, dieser einem Arzt vorzuführen und bei Feststellung unwahrer Angaben zur Verantwortung zu ziehen".

Des Weiteren ordnet der Erlass bei mehr als 28 Grad (als Kameradenhilfe) an, dass bei Erkennen von Mattigkeit, Schwindel, Beklemmungsgefühl, roter Gesichtsfärbe (manchmal auch Blässe), starkem Durst und/oder Kopfschmerzen, der Rekrut rasch in ein Spital zu transportieren ist, weil diese Erscheinungen Anzeichen für Lebensgefahr sind.

36,1 Grad, 24,3 Kilo, offenes Gelände, kein Sanitätspersonal

Am Tag des Horner Hitzemarsches (3. August 2017) hatte die Temperatur

a.) bereits um 9 Uhr früh 29,2 Grad Celsius im Schatten,

b.) zum Zeitpunkt des Abmarsches (gegen 13 Uhr) 35,9 Grad Celsius im Schatten und

c.) um 14 Uhr 36,1 Grad erreicht sowie

auch die Tage davor weit mehr als 28 Grad Celsius im Schatten erreicht (seit 31.7.2017 jeden Tag deutlich über 30 Grad, am Tag vor dem Vorfall, am 2.8.2017, waren es 33,8 Grad).

Trotz dieser Extremtemperatur wurde der Marsch angeordnet – nach einem am Vormittag bereits erfolgtem mehrstündigem Stationstraining mit zu tragender Last von 24,3 Kilo, ohne ausgebildetes Sanitätspersonal und in der ersten Hälfte auf offenem Feld.

Nach den Aussagen der vernommenen Marschteilnehmer hat der Rekrut nach etwa über drei Kilometern erstmalig angehalten, um sich hinzusetzen und dabei über Brennen der Füße und der Haut geklagt, ist aber dennoch von den übrigen Mitgliedern der Marschgruppe animiert worden weiterzugehen, weil sie in Konkurrenz mit den anderen Marschgruppen nicht zurückfallen wollten – und dass obwohl der Rekrut mehrmals geäußert hat, dass er nicht mehr könne. In der Folge hat er ständig zwischen Sitzen und Liegen gewechselt und sich schließlich neben ein Gebüsch gelegt, wo ein kleiner Schatten war. Der Gruppenkommandant hat ihn daraufhin angeschrien: "Was machen Sie da, stehen Sie auf!" Der Rekrut hat daraufhin mehrmals geantwortet: "Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr ..." Nach circa einem Kilometer wurde dann wieder ein kurzer Halt gemacht. Der Grundwehrdiener hat sich sofort auf den Boden gelegt und mehrmals gerufen: "Ich kann nicht mehr!" Der Gruppenkommandant schreit ihn wieder mehrmals an: "Stehen sie auf!" Nach fünf bis zehn Minuten verschlechterte sich der Zustand des Rekruten weiter.

"Wegen ihm waren wir gehindert"

Aus den Aussagen der Marschteilnehmer:

  • "unbedingt in einer guten Zeit"
  • "so motiviert, die anderen zu schlagen, aber wegen ihm waren wir gehindert"
  • "verloren viel Zeit, und eine andere Gruppe überholte uns"
  • "GrpKdt und wir versuchten ihn lautstark zum Weitermarschieren zu bewegen"
  • "lautstark ihn zum Weitergehen zu bewegen ... Dann überholte uns die 3. Marschgruppe und wir wurden ziemlich ungehalten und auch Gfr […] versucht Rekr […] zum Weitermarsch bewegen. Rekr […] lehnte lautstark ab und wurde aggressiver"
  • "Gfr […] wollte aber, dass wir weitergehen und hat, obwohl er sein Handy in der Hand hielt, nicht angerufen. Rekr […] konnte nicht aufstehen"
  • "Gfr […] forderte ihn auf zum Weitergehen ... keine vernünftigen Antworten und redete wirres Zeug .... wir schrien ihn an, er soll aufstehen"
  • "motivierten sie lautstark zum Weitergehen .... Gfr […] schrie ihn daraufhin an 'was machen Sie da, stehen Sie auf' ... Gfr […] schrie ihn mehrmals an 'stehen Sie auf!' Der Rest der Gruppe war zu diesem Zeitpunkt gereizt und teilweise passiv ... Nach 5-10 min begann der Zustand des Rekr […] schlechter zu werden. Gfr […] fordert ihn weiterhin zum Aufstehen auf"
  • "Wir alle waren frustriert, weil uns die beiden aufhielten. Ich und die restliche Gruppe waren sehr motiviert, den Marsch zu beenden, weshalb wir unseren Ton etwas verschärften. Der Frust war hoch, weil uns die dritte Gruppe überholt hatte".

Abgeholt im Pritschenwagen

Nachdem die Gruppe an jener Stelle gehalten hatte, wo der Grundwehrdiener gar nicht mehr weiter konnte (letzter Zusammenbruch), sind weitere 15 bis 20 Minuten vergangen, bis der Gruppenkommandant telefonisch seine Vorgesetzten verständigte, wozu er sich erst veranlasst sah, als der Rekrut zusätzlich zu den schweren körperlichen Symptomen auch psychische Auffälligkeiten zeigte wie "völlige" Verwirrtheit. Während dieser 20 Minuten flehte der Rekrut den Gruppenkommandanten mehrmals darum an, einen Arzt zu rufen. Er sagte zu ihm: "Ich brenne, ich kann nicht mehr, ich habe 120 Prozent gegeben, rufen Sie den Arzt, warum glauben Sie mir nicht, rufen Sie den Doktor!" "Ich brenne, ich sterbe."

Es war 14.19 Uhr, als der Gruppenkommandant seinen Zugskommandanten von dem Vorfall verständigt hat. Dieser und dessen Stellvertreter haben den Rekruten daraufhin gegen 14.45 Uhr mit einem Pritschenwagen abgeholt und ihn nicht ins Spital, sondern in die Kaserne gebracht.

Abgelegt am Kasernenboden in praller Sonne mit 43,5 Grad Fieber

Die erste Rettungsmannschaft des Roten Kreuzes ist dort um 15.05 Uhr eingetroffen. Die Rettungssanitäter fanden den nicht mehr ansprechbaren Rekruten am Kasernenboden in stabiler Seitenlage in der prallen Sonne liegend mit über 43,5 Grad Körpertemperatur vor. Dass sonstige Erste-Hilfe-Maßnahmen gesetzt oder etwa Heurigenbänke oder Ähnliches aufgestellt worden seien, um den Rekruten zu beschatten, konnten sie nicht wahrnehmen.

Nach der durchgeführten Erstversorgung durch das Notarztteam ist der Grundwehrdiener um 15.29 Uhr in das Krankenhaus Horn transferiert worden, wo er nach einstündiger Reanimation um 17.13 Uhr verstorben ist.

"Wer jammern kann, kann auch marschieren"

Der damals 25-jährige Kompaniekommandant hat am Vorabend des Marsches – als die Extremtemperaturen des kommenden Tages bereits bekannt waren – im Hinblick auf den Marsch des darauffolgenden Tages, anstatt den Marsch abzusagen oder den Temperaturen anzupassen, den Rekruten der Kaserne Horn eingebläut, dass solange sie jammern, meckern und über Schmerzen klagen können, auch weitermachen könnten: "Wer jammern kann, kann auch marschieren." (Helmut Graupner, 20.7.2021)