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"Wer nicht aufrecht saß, musste die Hände hinter dem Rücken verschränken und für mehrere Minuten in dieser Position verharren. Trotzdem habe ich mich jeden Tag auf die Schule gefreut", berichtet Hermine Lehner (74). Sie wurde von ihrer Enkelin zu ihrer Kindheit befragt.

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Keine Supermärkte, kaum Autos, Wasser am Gang und getrennte Mädchen- und Bubenklassen. Dafür viel Zeit draußen und Völkerballspielen auf der Straße. Wer heute über 70 ist, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ganz anders aufgewachsen als seine Enkel. Wie war es früher, Kind zu sein? Wie sah der Alltag aus und wie die Schule? Dazu haben Jugendliche im Rahmen eines Workshops beim STANDARD recherchiert. Sie haben ihre Großeltern befragt und Protokolle angefertigt.


"Wir waren nie reich, aber hatten alles"

"Als jüngstes von sieben Kindern hatte ich es nicht immer einfach, dennoch kann ich behaupten, eine schöne Kindheit verbracht zu haben. Geboren und aufgewachsen bin ich in der Nachkriegszeit in der obersteirischen Bergbaustadt Eisenerz. Da ich bei meiner Geburt sehr zierlich war, legten mich meine Eltern in den aufgewärmten Backofen, damit ich mich besser entwickeln konnte.

Meine Familie lebte in einem Wohnhaus mit zwölf Parteien. Der Wasseranschluss befand sich am Gang und wir benützten ihn gemeinsam mit den Nachbarn. Neben unserer Wohnung besaßen wir einen kleinen Stall mit Ziegen und Schweinen, weswegen wir immer Zugriff auf Milch und Fleisch hatten. Unsere Schweine konnten wir jedoch nicht selbstständig ernähren, wir waren auf die Essensreste unserer Nachbarn angewiesen, die wir mehrmals pro Woche einsammeln mussten.

Besonders gerne erinnere ich mich an den gemeinsamen Schulweg mit meinen älteren Geschwistern, der sich aufgrund unserer lustigen Gespräche immer unterhaltsam gestaltete. Der Schulalltag war ganz anders als heute. Während meiner Schulzeit waren Mädchen und Buben in verschiedenen Gebäuden untergebracht, und wehe, jemand hat versucht, den Bereich des anderen Geschlechts zu betreten. Solchen Unfug habe ich mir allerdings ohnehin nicht erlaubt, denn ich war eine äußerst brave und stille Schülerin.

Als jüngstes Kind war ich es von zu Hause gewohnt, nur wenig Mitspracherecht haben. Geredet haben immer die anderen, nie ich. Besonders an der Schule in Eisenerz war, dass wir unsere Lehrerinnen und Lehrer zu Beginn jeder Stunde mit dem Bergmannsgruß 'Glück auf!' begrüßen mussten. Die Verhältnisse in der Schule waren streng. Wer nicht aufrecht saß, musste die Hände hinter dem Rücken verschränken und für mehrere Minuten in dieser Position verharren. Trotzdem habe ich mich jeden Tag auf die Schule gefreut.

In Eisenerz ging es uns aufgrund des Bergbaus besser als in zahlreichen anderen Städten und Gemeinden nach dem Krieg. Ich erinnere mich, dass in meiner Kindheit die Leute aus ganz Österreich anreisten, um bei uns zu arbeiten. Auch mein Vater und mein Bruder waren im Bergbau tätig. Für meine Eltern hatte Bildung einen hohen Stellenwert. Sie waren bemüht, jedem ihrer Kinder eine ordentliche Ausbildung zu ermöglichen. Ich entschied mich für eine Lehre zur Friseurin, da dieser Beruf in meiner Jugend in Mode war. Meine Familie war nie reich, aber wir hatten immer alles, was wir zum Leben und Überleben brauchten." (Protokoll: Marie-Theres Stachl, 20.7.2021)

Hermine Lehner ist 1947 in Eisenerz geborgen. Ihre Enkelin Marie-Theres Stachl (17 Jahre) hat sie zu ihrer Kindheit befragt.


"Früher war es gemütlicher"

"Als ich ein Kind war, gab es keine Supermärkte. Es gab einen Greißler, einen Gemüsehändler, einen Markt und eine Milchfrau. Der Greißler kannte uns von klein auf, und meine Geschwister und ich konnten uns auch wenn unsere Eltern gerade arbeiten waren eine Wurstsemmel holen. Die wurde dann aufgeschrieben und am Freitag, wenn das Geld kam, bezahlt. Das war auch deshalb möglich, weil in der Gegend jeder jeden kannte.

Während die großen Geschäfte mit Lastwägen beliefert wurden, fuhr der Gemüsehändler aus unserem Haus mit einem Pritschenwagen, das ist eine gerade Fläche mit einer Deichsel und einem Gurt vorne dran. Den musste er selbst zum Brunnenmarkt ziehen und hat dann dort von den Bauern sein Gemüse gekauft. Bei der Milchfrau konnte man sich allerlei Milchprodukte holen.

Einmal bin ich mit meinem Bruder und einer vollen Milchkanne, die aus Metall war und einen Henkel mit Holzgriff hatte, nach Hause gegangen – und mein Bruder hat mir erklärt, dass wenn man die Kanne schnell dreht, wie ein Rad, keine Flüssigkeit ausrinnt. Heute verstehe ich, dass es die sogenannte Fliehkraft ist, die die Milch drinnen hält. Damals war ich aber nicht so gescheit und wollte, als die Kanne oben war, reinschauen – und dann habe ich natürlich die ganze Milch ausgeschüttet.

Mein Vater war Hilfsarbeiter und hat viele Überstunden gemacht. Meine Mutter hat in der Manner- Fabrik gearbeitet. Sie war sehr kreativ, geschickt und wusste sich immer zu helfen. Ihre Einstellung war: 'Es wird nichts so heiß gegessen wie gekocht' und 'Es gibt für alles eine Lösung'.

Wobei man sagen muss, dass es früher auch gemütlicher war. Es ging mehr um Familie, Freunde und Zusammenhalt. Dadurch, dass es nichts Vergleichbares wie Fernsehen gab, hatte man mehr Kontakt zu den Menschen. Wir haben zum Beispiel oft auf den Straßen Völkerball gespielt, weil damals ja noch kaum Autos fuhren.

Das Leben war also auch bescheidener. Heute gibt es mehr Luxus und Konsumgüter, von denen damals keine Rede war. Als ich Kind war, hatten wir kein Fließwasser, kein WC und kein Badezimmer und auch keine Waschmaschine in der Wohnung. Im Haus war eine große Waschküche, da hat man die Wäsche in großen Kesseln gekocht, im Waschtrog anschließend mit der Waschbürste gebürstet, dann ausgewunden und am Dachboden aufgehängt. Im Frühjahr haben wir eventuell eine neue Garderobe bekommen und im Winter einen neuen Wintermantel. Aber dass jemand drei oder vier Wintermäntel hatte, das hat es nicht gegeben." (Protokoll: Sandra Kalla, 20.7.2021)

Sandras Großmutter, die lieber anonym bleiben möchte, wurde 1946 in Wien geboren. Ihrer Enkelin Sandra Kalla (16 Jahre) hat sie erzählt, wie das Leben in der Nachkriegszeit ausgesehen hat.