Heiliger Bimbam! Natalie Bergman veröffentlicht das Gospelalbum "Mercy".

Third Man Records

Wenn der Hut brennt oder das Haus, dann werden die höheren Mächte bemüht. So viele Black- und Death-Metal-Platten kann man gar nicht im Schrank haben. In einem Moment des Schreckens entfährt einem wie nichts ein "Tschiiisasss!", ein "O, mein Gott!". Egal, ob es gen Himmel gerufen oder mit zehn Fingern "OMG!" ins Handy getippt wird. Da hat die religiöse Mission über die Jahrhunderte ganze Arbeit geleistet.

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Natalie Bergman ist da keine Ausnahme. Oder doch. Sie beschränkte sich nicht darauf, den Himmelvater anzurufen, als ihr irdischer bei einem Autounfall schuldlos ums Leben kam. Die US-Musikerin ging ins Kloster, suchte Trost bei den dortigen Ritualen und hat, ehrenhaft entlassen, anschließend ein Gospelalbum aufgenommen. Es trägt den Titel Mercy, und Bergmann wird es im Herbst bei Live-Terminen in Wien – beim Bluebird-Festival – und in Graz zu Gehör bringen.

Single mit Beck

Mit der Band Wild Belle hat sie zuvor drei Alben veröffentlicht, die stilistisch Elektronik, Indie-Rock und Reggae absorbiert haben. Berührungsängste kennt die aus Chicago stammende Frau keine, erst vor zwei Wochen hat sie eine Single mit Beck veröffentlicht.

Gospel ist ein weites Feld, dann aber auch wieder nicht. Für Thomas A. Dorsey war jede Musik Gospel, die Gott adressiert. Er musste es wissen. Dorsey (1899–1993) gilt als Vater des modernen Gospels. Er tourte erfolgreich mit Blues-Stars wie Ma Rainey und kam in den 1920er-Jahren über mehrere Erweckungserlebnisse zum Gospel, etwa durch den Tod seiner Frau bei der Geburt eines Kindes, das drei Tage später ebenfalls starb. An die 3000 Gospelsongs soll er geschrieben haben, darunter Klassiker wie Peace in the Valley oder Take My Hand, Precious Lord.

Das sind Titel, die im Gospel und von Vertretern des weltlichen Fachs gleichermaßen interpretiert wurden. Von Stars wie Mahalia Jackson bis Elvis Presley, von Johnny Cash bis zu der in beiden Welten alles und jeden überzeugenden Aretha Franklin.

Fundament der Popmusik

Dorsey transformierte die "field hymns" schwarzer Sklaven in zeitgenössische Arrangements – samt der emotionalen Wucht, die hunderte Jahre Sklaverei und Entmenschlichung verursacht hatten. Dorsey wird angerechnet, dass er die Frohe Botschaft des Gospels mit den schlechten Nachrichten des Blues kreuzte.

Gospel wurde zur populärsten schwarzen Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zählt mit zum Fundament der Popmusik. Zwar gab es immer wieder Bedenken, wenn Gospelstars den Versuchungen der weltlichen Musik nachgaben, doch viele Gospelstars lebten ohnehin einen vom Wort Gottes nicht wirklich abgesegneten Sex- und Drogen-Lifestyle. Und für Größen wie Ray Charles war es die natürlichste Sache der Welt, die Musik der Kirche mit profanen Inhalten zu versehen – so entstanden, leicht abgekürzt erzählt, Rhythm and Blues und Soul Music.

Mit den stimmgewaltigen Vertretern des Gospels und des Soul hat die Musik der Natalie Bergman wenig zu tun. Sie hat keinen riesigen Chor im Rücken, sie setzt auf eine reduzierte, fast kathartische Variante – wenngleich sie in manchen Liedern dem Ruf-und-Antwort-Schema ("call and response") des Gospels folgt und sich von ein paar Freundinnen helfen lässt.

Bergmans Musik besitzt den Charme verstrahlter Hippie-Kinder. Zwar wendet sie sich in Liedern wie Shine Your Light On Me,I Will Praise You oder Talk To The Lord direkt an den Himmelvater, die Inbrunst schwarzer Chöre versucht sie gar nicht erst nachzustellen. Ihre Musik umweht eher die Aura der Spiritualität, die so etwas wie ein Trabant des Gospels ist und zugleich ein Anknüpfungspunkt für die Atheisten: Man muss nicht an Gott glauben, um sich von der Emotionalität dieser Musik infizieren zu lassen.

Die gute Nachricht

Wobei ein Blick zeigt, dass Gospel sich ohnehin immer wieder auch im Pop zeigt. Von Nick Cave bis Kanye West, von Mark Lanegan bis zu Dolly Parton. Die europäisch geprägte Kirche beäugt die Leidenschaft des Gospels teilweise bis heute missmutig. Die bis zur Ekstase reichende Hingabe wird als gottlos und antiintellektuell diffamiert, immer noch pochen viele darauf, dass die göttliche Kunde stocksteif zu empfangen sei.

Dabei ist Freude und Leidenschaft angebracht. Gospel bedeutet eigentlich eine gute Nachricht, der Begriff setzt sich aus den Wörtern "good" und "spell" zusammen. Wer sich seiner bedient, hat die schlechte Nachricht meist schon überwunden oder sehnt es wenigstens herbei. Natalie Bergman tröstet also nicht nur sich selbst, sondern, wie alle Gospelkünstler, auch ihr Publikum. (Karl Fluch, 20.7.2021)