Es werden moralisierende Diskurse über gesunde Ernährung oder das Stillen geführt – und die sozioökonomischen Bedingungen dabei völlig ausgeblendet.

Foto: Getty Images / iStockphoto / Joaquin Corbalan

Protzige Armbanduhren oder Handtaschen, auf denen in dicken Buchstaben das Designerlogo prangt – einer neuen Elite dienten sie nicht länger als Statussymbole, schreibt Elizabeth Currid-Halkett. In ihrem soeben in deutscher Übersetzung erschienenen Buch "Fair gehandelt? Wie unser Konsumverhalten die Gesellschaft spaltet" skizziert die US-amerikanische Soziologin die Werte und Konsumgewohnheiten einer neuen kulturellen Elite, der "Aspirational Class", und liefert wichtige Denkanstöße, die trotz US-amerikanischer Besonderheiten auch in Europa ihre Gültigkeit haben.

Demonstrativer Konsum habe sich in den USA demokratisiert, so Currid-Halkett: Während Kleinstadtbewohner*innen in den 1990er-Jahren noch lange Fahrten auf sich nehmen mussten, um ein Paar Designerschuhe zu ergattern, hat das Onlineshopping begehrte Produkte jederzeit verfügbar gemacht. Konzerne schufen indes mit Submarken erschwinglichere Versionen ihrer Statusobjekte.

Lieber unauffällig

Der neuen aufstrebenden Klasse diene daher ein unauffälliger Geltungskonsum als Unterscheidungsmerkmal, der zwar auch oft teuer sei, vor allem aber Wissen erfordere und auf gemeinsamen Werten basiere. So zählt der Besuch des lokalen Biobauernmarkts ebenso dazu wie ein Gespräch über Artikel im "New Yorker" oder ein Stillkurs beim Luxus-Babyausstatter.

Abseits einer simplen Spaltungsthese interessiert sich die Soziologin dafür, inwiefern veränderte Wertehaltungen und Konsumentscheidungen auf die bestehende Klassengesellschaft einwirken. Dafür hat Currid-Halkett Daten des U.S. Bureau auf Labor Statistics ausgewertet, das amerikanische Haushalte zu ihren Einkaufsgewohnheiten befragt.

Auf den ersten Blick hat sich seit 1996 wenig verändert: US-Amerikaner*innen geben in etwa gleich viel Geld für Tabak, für Lebensmittel und fürs Wohnen aus, im Detail zeigt sich jedoch ein differenziertes Bild. So geben die oberen Einkommensgruppen anteilig weniger für Luxusgüter wie Uhren, Schmuck und Autos aus, jedoch sind ihre Ausgaben für Gesundheit, Bildung und Altersvorsorge deutlich gestiegen. Das oberste Prozent gibt anteilig sogar 300 Prozent mehr für Bildung aus als noch 1996, während die Bildungsausgaben der restlichen Gruppen in etwa gleichgeblieben sind. Dabei wird nicht nur in Elite-Universitäten investiert, sondern auch in private Vorschulen oder Musikunterricht. Ein Trend zu Privatschulen lässt sich indes auch in Staaten mit gut ausgebautem öffentlichem Schulsystem beobachten. So ist in Deutschland die Anzahl an Privatschulen zwischen 1992/1993 und 2018/2019 um ganze 80 Prozent gestiegen, berichtet das Statistische Bundesamt.

Nicht nur Brot, sondern Sauerteig mit Geschichte

Urbane Eliten sind es auch, die Nannys beschäftigen. Eine Dienstleistung, die nicht nur die Lebensqualität steigert, sondern es vor allem wohlhabenden Frauen erlaubt, die eigene berufliche Karriere voranzutreiben.

Eliten sichern so auch Vorteile für nachfolgende Generationen – und verschärfen damit Klassenunterschiede weiter, befürchtet Currid-Halkett.

Elizabeth Currid-Halkett, "Fair gehandelt? Wie unser Konsumverhalten die Gesellschaft spaltet". 12,90 Euro / 368 Seiten, btb-Verlag, 2021.
Foto: btb Verlag

Die Soziologin nimmt aber auch Konsumtrends etwa beim Essen unter die Lupe. So sei das Prinzip der "demonstrativen Herstellung" in sämtlichen westlichen Metropolen zu beobachten: Märkte mit regionalen, nachhaltigen Produkten boomen in London ebenso wie in Berlin und Wien, Bäcker verkaufen nicht bloß Brot, sondern erzählen die Geschichte ihres Sauerteigs. Es sei vor allem das Fehlen von Mangelerfahrungen, das es erlaube, Kenner*innenschaft zu zelebrieren und den eigenen Konsum an Werten wie Nachhaltigkeit auszurichten. Entsprechend ginge es nicht darum, teuer oder günstig zu kaufen, sondern das Richtige zu konsumieren – und damit die eigene Informiertheit zu demonstrieren. Dafür reicht vielleicht schon ein Stoffbeutel vom Bio-Lebensmittelmarkt – oder jene Tasche, auf die österreichischen Grünen 2012 den Slogan "Bio macht schön" druckten.

Das gute Gefühl nach einem Einkauf im Fairtrade-Laden oder bei der lokalen Winzerin stärkt letztendlich auch die Überzeugung, mit dem eigenen Konsum die Gesellschaft zu verbessern. "Und diesen Menschen fehlt oft das Bewusstsein dafür, inwiefern sie selbst Herrschaftsverhältnisse in einer Gesellschaft hervorbringen und stabilisieren", sagt die österreichische Soziologin Carina Altreiter, die zu sozialer Ungleichheit und sozialem Wandel forscht.

Mütterliche Klassenmoral

Besonders eindringlich schildert Currid-Halkett die Verschleierung von Klassenverhältnissen im Kapitel zu Mutterschaft. So erweist sich die Stillquote unter Müttern in den USA, wo kein gesetzlicher Mutterschutz existiert, als Klassenfrage – Collegeabsolventinnen stehen klar an erster Stelle. Stillen ist zeitintensiv, eine unbezahlte Auszeit von der Lohnarbeit zu nehmen ist für viele undenkbar, auch der Zugang zu Gesundheitsversorgung ist von sozialer Ungleichheit geprägt. Und dennoch tobten in der "New York Times" Glaubenskriege, die Stillen als moralische Frage diskutieren und dabei die Lebensrealität der Mehrheit ausblenden, schreibt die Soziologin. Die Werte privilegierter Mütter schaffen jedoch den Maßstab, der auch an jene angelegt wird, die mit rassistischer Diskriminierung kämpfen oder bis spät nachts schuften, um das Überleben der eigenen Familie zu sichern. Ökonomisch benachteiligte Mütter sind es letztendlich auch, die Klassismus ganz besonders trifft: So widmet sich auch im deutschsprachigen Privatfernsehen ein ganzes Genre vermeintlichen Problemmüttern, deren Kühlschrank und Erziehungsmethoden bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet werden.

Solidarität und Spaltung

In die Bildung der eigenen Kinder zu investieren erscheint ebenso vernünftig wie moralisch richtig. Und hier setzt erneut Currid-Halketts zentrales Argument an: Das Verhalten der Eliten, die "tief in der sozioökonomischen Position verankert sind", trete als moralische Entscheidung oder Werturteil auf. Entsprechend leicht ginge der Blick für die Ungleichheit um sie herum verloren, gesellschaftliche Spaltung würde weiter vertieft.

Die Debatte um eine gesellschaftliche Polarisierung wurde 2015 auch hierzulande besonders hitzig geführt. Im Zuge der verstärkten Fluchtbewegungen untersuchte Carina Altreiter gemeinsam mit Kolleg*innen den Wandel von Solidaritätsvorstellungen. Die österreichische Gesellschaft lasse sich nicht in zwei Lager – hier die Willkommenskultur, dort ausgrenzende Rassist*innen – teilen, so das Resümee der Soziolog*innen, dazwischen existierten ganz unterschiedliche Formen von Solidarität, die an bestimmte Bedingungen geknüpft seien. "Wir haben aber einen Solidaritätstypus identifiziert, der gut zu Currid-Halketts Thesen passt. Eine sehr privilegierte Gruppe, die sich äußerst engagiert in der Flüchtlingshilfe gezeigt und das auch moralisch begründet hat. Eine Einsicht in bestehende Ungleichheiten in Österreich fehlte ihnen aber, die Verhältnisse an sich wurden also nicht infrage gestellt", so Altreiter. Zugleich schilderte insbesondere ein ländliches Facharbeiter*innen-Milieu, sich abgewertet zu fühlen, die Politik nehme ihre Lebenswirklichkeit nicht wahr, so ihr Befund.

"Wenn unterschiedliche Lebensrealitäten voneinander abgeschottet sind, ist das immer schädlich für eine Gesellschaft. Deshalb ist es auch so wichtig, Begegnungsorte wie eine gemeinsame Schule zu haben – und kein segregiertes Schulsystem", sagt Altreiter.

Rohe Bürgerlichkeit

In Deutschland befeuerte zuletzt Sahra Wagenknecht mit ihrer Abrechnung mit sogenannten Lifestyle-Linken die Debatte um eine selbstgerechte (grüne) Elite, die sich wenig für die Lebensrealitäten im Niedriglohnsektor interessiere. Wagenknecht bedient aber auch rechtskonservative Argumentationsmuster, fordert eine weitere Begrenzung von Zuwanderung ein und wettert gegen "Identitätspolitik", die die Linke schwäche.

Die Frage, inwiefern Linke und linksliberale Politik zum Erstarken rechter, autoritärer Strömungen beitragen, füllt inzwischen wohl Bücherregale. Eine Debatte, die vielleicht auch das Potenzial dazu hat, Problemfelder zu verdecken. So identifiziert Soziologin Altreiter hierzulande das Phänomen der "rohen Bürgerlichkeit" als die weitaus dringlichere Klassenfrage. "Ich denke an eine konservative Elite, die sich selbst als Elite begreift und sich vom 'Pöbel' abgrenzt. Und die eine Politik betreibt, die vor allem eine Verschlechterung für arbeitende Menschen bedeutet", sagt Altreiter. Und das gar nicht so unauffällig. (Brigitte Theißl, 25.7.2021)