Das Symbol des Zusammenbruchs des Libanon: Der Hafen von Beirut präsentiert sich fast ein Jahr nach der Explosion, die am 4. August ein ganzes Stadtviertel zerstörte, in einem katastrophalen Zustand.

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Jetzt soll also alles wieder von vorn beginnen: Der Präsident, Michel Aoun, nimmt nächsten Montag Konsultationen mit den Parteien im libanesischen Parlament auf, um am Ende dieses Prozesses einen neuen Premierminister zu designieren: jene Person, die am meisten Unterstützung findet. Der Regierungschef, der derzeit die Geschäfte führt, Hassan Diab, ist am 10. August 2020, sechs Tage nach der Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut, zurückgetreten. Saad Hariri, der am 22. Oktober 2020 mit der Regierungsbildung beauftragt wurde – nachdem ein anderer Kandidat gescheitert war –, hat am vergangenen Donnerstag aufgegeben, also nach fast neun Monaten.

Die Feststellung, dass der Libanon am Abgrund steht, klingt mittlerweile schal. In Haaretz hat Zvi Bar’el eine drastische Beschreibung gefunden: Die Tiere im Zoo von Beirut würden zwar hungern, aber sie hätten die Chance, dass sich jemand ihrer individuell annimmt. Nach Hariris Rückzug brach die libanesische Währung weiter ein, sie hat seit Herbst 2019 90 Prozent ihres Werts verloren. Armeechef Joseph Aoun warnte davor, dass sich bisher lokal auftretende Unruhen auf das ganze Land ausweiten könnten. Seine Armee ist ebenfalls längst auf Hilfe von außen angewiesen, Katar finanziert Lebensmittel.

Keine Regierung, kein Geld

Wenn Präsident Aoun vorige Woche Hariris Kabinett akzeptiert hätte, so hätte der mehrfache Expremier und Sohn des 2005 ermordeten Rafik Hariri keinen Zauberstab gehabt, um auch nur eines der libanesischen Probleme rasch zu lösen. Aber er hätte auf internationale Unterstützung zählen können. Der Libanon braucht eine stabile Regierung als Ansprechpartner der internationalen Finanzinstitutionen. Der Internationale Währungsfonds hat zwar trotz des Zusammenbruchs der Regierungsbildung nun 860 Millionen US-Dollar (730 Mio. Euro) zugesagt, aber das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Dass der Libanon zum Jahrestag der Explosion in Beirut keine reguläre Regierung hat, illustriert die Lähmung des in Quoten für die einzelnen Konfessionen gefesselten politischen Systems. Hariri sagt, er sei mit seinem Kabinettsvorschlag von 24 unabhängigen Experten sowohl den Vorgaben von Parlamentspräsident Nabih Berri (von der schiitischen Amal-Partei) als auch dem von Präsident Emmanuel Macron gesponserten französischen Plan gefolgt.

Laut Michel Aoun – beziehungsweise dessen Schwiegersohn Gebran Bassil, der die Aoun-Partei Freie Patriotische Bewegung führt – verstieß Hariris Ministerliste gegen das Taif-Abkommen, das 1989 den Bürgerkrieg beendete: konkret gegen die Machtteilung zwischen Christen und Muslimen. Hariris 24 Minister wären, je acht, den Gruppen von Sunniten, Schiiten und Christen zuzurechnen gewesen, was Bassil als schleichenden Systemwechsel bezeichnete.

Laut Hariri war das wahre Problem die Sperrminorität, die Aouns Partei und die mit ihm verbündete Hisbollah im Kabinett immer wieder beanspruchen und so verloren hätten. Aber hätte es nicht ohnehin ein unabhängiges Expertenkabinett sein sollen? Auch ohne einer Partei anzugehören und mit dem Etikett "unabhängig" versehen, sei man im Libanon einer Gruppe zuordenbar und von ihr abhängig, erklärt ein arabischer Diplomat dem STANDARD.

Wahlen nächstes Jahr

Wie geht es jetzt weiter, auch mit den geplanten Wahlen von 2022, die vorbereitet werden müssen? Aoun wird am 26. Juli im Präsidentenpalast Baabda die Konsultationen führen. Der Premier muss laut Verfassung ein Sunnit sein (wie der Präsident ein maronischer Christ und der Parlamentspräsident ein Schiit). Als aussichtsreichster Kandidat wird immer wieder Najib Mikati genannt, der von 2011 bis 2014 bereits Regierungschef war. Aber Mikati hat bereits abgewinkt, er würde sich mit nichts weniger als Hariri zufriedengeben, ließ er verlauten.

Tammam Salam, Premier von 2014 bis 2016, scheint ebenfalls wieder im Spiel zu sein. Und auch der Name des weniger bekannten Faisal Karami, Parlamentarier aus Tripoli und Spross einer berühmten Politikerfamilie, wird genannt, der aber wegen seiner Nähe zu Hisbollah und Aoun wenig Unterstützung unter den Sunniten hätte – wie jetzt Hassan Diab. Aber es gilt eben, einen Kompromiss zu finden. Saudi-Arabien, das als Schutzmacht der Sunniten gilt, aber persönliche Probleme mit Hariri hat – zumindest gilt das für Kronprinz Mohammed bin Salman, der Hariri, der auch einen saudischen Pass hat, 2017 kurz in Saudi-Arabien festhalten ließ –, verhält sich bisher passiv. Hariri selbst ließ wissen, dass von ihm kein Vorschlag kommen werde.

Druck aus dem Ausland

Aus dem Ausland kommt Druck, besonders aus Frankreich, das, wie im Vorjahr nach der Beiruter Explosion, im August wieder eine Geber-Konferenz für den Libanon organisiert. Dass Paris Bedingungen für ein tiefergehendes Engagement gestellt hat und die EU libanesischen Politikern mit Sanktionen droht, löst in Hisbollah- und Iran-nahen Medien Kolonialismus-Alarm aus: Es werde unter dem Vorwand, dass der Libanon ein "failed state" sei, ein neues "französisches Mandat" für den Libanon geben.

Das ist eine Anspielung auf die Zeit nach dem 1. Weltkrieg und das Mandat des damaligen Völkerbundes. Natürlich gibt es für so etwas heute keinerlei Grundlage. Wenn schon, dann wird der Libanon unter der Fuchtel des Internationalen Währungsfonds stehen.

Besonnene Stimmen warnen die EU und die USA jedoch vor harschen Schritten: Damit treibe man das Land erst recht anderen Akteuren in die Arme– in jene des Schutzpatrons der Hisbollah, des Iran, aber auch von Russland und China. Hassan Diab stieß in das gleiche Horn, als er von einer möglichen "Neuorientierung" des Libanon Richtung Osten sprach.

Öl aus dem Iran

Die Hisbollah-Gegner hingegen fürchten um die libanesische Souveränität, wenn Parteichef Hassan Nasrallah in den Raum stellt, dass die Hisbollah – an der libanesischen Regierung vorbei – iranisches Öl importieren könnte. Eine der täglichen Plagen für die Menschen ist ja der Treibstoffmangel. Allerdings gelten noch immer die US-Sanktionen nicht nur für den Iran, sondern auch für potenzielle Käufer.

Folgerichtig glauben manche im Libanon, ihre politische Zukunft werde erst entschieden, wenn es in Wien einen US-iranischen Durchbruch – oder eben nicht – bei den Atomverhandlungen gebe. Sie sollen wahrscheinlich erst in der zweiten Augusthälfte weitergehen. Am 5. August wird Ebrahim Raisi als neuer iranischer Präsident ins Amt eingeführt. Er scheint es nicht eilig zu haben.

Der Libanon müsste demnach warten, trotz aller Warnungen vor dem totalen Kollaps. Nicht hilfreich ist, dass es nebenbei auch um die Zukunft von Michel Aouns Partei geht – und darum, wer ihm als Präsident nachfolgt, wenn sein Mandat nächstes Jahr ausläuft. Seit Jahren wird auch über den Gesundheitszustand des 86-Jährigen gemunkelt.

Für viele ist für Aouns Nachfolge als Präsident dessen Schwiegersohn Bassil, gegen den US-Sanktionen laufen, fix gesetzt. Dass Armeechef Joseph Aoun zuletzt einen vielbeachteten US-Besuch absolvierte und sich vermehrt zu Wort meldet, nährt aber Gerüchte über seine Ambitionen und seinen internationalen Stand. Wobei ein Armeechef natürlich nicht so ohne weiteres Staatschef werden kann. (Gudrun Harrer, 20.7.2021)