Die Ahr hat sich beruhigt. Sie plätschert und rauscht und umarmt das Dorf wie eine Mutter ihr Kind. Hellgrün ist ihr Wasser, und wo sie auf kleine Hindernisse trifft – da schäumt sie weiß auf. Ein bisschen. Keine fünf Tage zurück aber hat die Ahr das Dorf überrollt. Wo sie sonst eine Schleife zieht, schoss sie brüllend geradeaus. Und nahm mit, was ihr in die Quere geriet. Autos. Straßen. Häuser.

Die alte Domhofsbrücke über die Ahr in Schuld hat gehalten – gerade noch. Zurzeit dürfen nur Fußgänger ans andere Ufer.
Cornelie Barthelme

Am Montagvormittag geht Helmut Lussi durch sein Dorf. Alle fünf Schritte muss der Bürgermeister von Schuld stehenbleiben. Meistens, weil sein Telefon klingelt. Manchmal auch, weil ihn einfach jemand stoppt. Schuld wimmelt vor Helfern. Feuerwehr. Technisches Hilfswerk. Rotes Kreuz. Bundeswehr.

"Mehr Menschen", sagt Volker Landmesser, "als man auf die Schnelle koordinieren kann." Er ist einer von den Glückspilzen. Sein Haus steht am Fluss. Als am Mittwoch der Regen kam, dachte er zuerst an die Mutter seiner Lebensgefährtin, die ein Dorf weiter wohnt, im Überschwemmungsgebiet. "Rasch noch rüberfahren", sagten sich die beiden; gut, wenn die Pumpe dort im Keller schon einmal läuft.

"Wie neben einem Wasserfall"

Sie kamen nicht weit. Die Ahr hielt sie auf. "Normalerweise", sagt Landmesser, "hörst du die kaum. Aber da war plötzlich ein Tosen, als stünde man neben einem Wasserfall." Also umkehren. Vom Wohnzimmer aus sahen die beiden dann nicht nur, wie der Fluss dem Haus immer näher kam. Sie sahen – und hörten vor allem –, was er mitbrachte. "Da schwammen Wohnwagen vor uns vorbei!"

Viereinhalb Tage danach liegt die Seitenwand eines Campers am Rand der Dorfstraße, weit weg von Landmessers Haus. Außerdem Berge von dem, was das Wasser woanders mitgerissen hat und was sich dann an einer der Brücken in Schuld verkeilte.

Die alte Domhofsbrücke hat unten standgehalten. Oben nicht. Das Wasser hat die Wangen zerbrochen, den Asphalt weggespült. Jetzt bietet ein stählerner Behelf zumindest Fußgängern sicheren Weg.

Noch immer werden im Ahrtal Hunderte vermisst

Bürgermeister Lussi geht weiter, gemeinsam mit Hauptmann Florian Howe. Der koordiniert im 750-Seelen-Dorf Soldaten aus sieben Standorten. Vor ein paar Jahren war Howe in Afghanistan. Jetzt sagt er: "Ich habe schon vieles gesehen, auch dort. Aber nichts ist so wie Schuld." Während Howe es weiter Richtung Dorfkern versucht, zieht ein Hubschrauber einen Kreis und dreht ab. Noch immer werden im Ahrtal Hunderte vermisst. Noch immer wird gehofft. Howe hat gerade erfahren, dass ein paar Dörfer weiter ein alter Eisenbahntunnel durchsucht wird, der in der Flutnacht vollgelaufen war. 30 Tote würden befürchtet, sagt Howe leise.

Sicher ist, dass Cornelia Schlösser am Leben ist, "weil uns der Hans-Peter rausgeholt hat". Als der Regen kam, brachte die Chefin der Dorfbäckerei ihr Auto in Sicherheit. Kaum war sie zurück, "lief das Wasser schon zum Laden rein, es ging alles so rasend schnell". Am Ende wurde sie per Baggerschaufel von ihrer Terrasse geborgen – eben von Hans-Peter Diehl, der Menschen rettete, während die Ahr sein eigenes Haus mitriss. Er wolle darüber nicht reden, sagt er, er habe jetzt andere Sorgen.

Lachen – aber nicht, weil sie fröhlich ist, sondern eher, weil sie nicht weiß, wie ihr zumute ist: Cornelia Schlösser, die Chefin der Dorfbäckerei, bei den Aufräumarbeiten.
Cornelie Barthelme

Überhaupt: das Reden. Manche müssen einfach – wie der junge Marc Patron, der als Helfer gekommen ist. Die vergangenen drei Tage hat er im nahen Sinzig Schlamm und Schutt aus Häusern geholt. Und plötzlich war da, im dritten Keller, dieser winzige Körper mitten im Dreck … eine Babypuppe! Aber Marc wird noch immer blass beim Erzählen.

In Schuld haben alle überlebt. Sie haben keine Toten im Garten gefunden oder in Bäumen wie woanders. Der Schrecken ist ihnen trotzdem nahegekommen. Volker Landmessers Stiefsohn hat in der Flutnacht mit der Luftrettung Menschen aus ihren Campern geholt – und dabei über Leben und Tod entscheiden müssen. Nach dem Einsatz, erzählt Landmesser, hat sein Stiefsohn geweint.

Cornelia Schlösser aber lacht – weil sie nicht weiß, wie ihr zumute ist. Sie hat ihre Bäckerei ausgeräumt, Laden, Backstube, alles. Zentnerweise Dreck und Müll, jetzt hilft sie bei Nachbarn. Wie sich das anfühlt? "Man kann das gar nicht sagen. Man funktioniert nur."

Es geht nicht nur um Dinge

Bürgermeister Lussi hat von Mittwochfrüh bis Sonntagabend genau acht Stunden geschlafen. Am Sonntagnachmittag, als die Bundeskanzlerin in Schuld war, ist ihm kurz die Stimme schwach geworden. Jetzt sagt er dasselbe wieder: dass sie so vieles so gut hinbekommen hatten. Und dass jetzt so vieles kaputt ist. Er geht ihm nicht nur um Dinge.

Dort, wo bis Mittwoch der Tennisplatz war, wird jetzt die Notstromversorgung perfektioniert. Daneben das Wasserversorgungsprovisorium. Elektrizität gibt es seit Samstag, mit dem Wasser wird es noch etwas dauern, mit dem Gas wohl bis zum Herbst. "Alles abgesoffen", berichtet Landmesser, "und die Ringleitung fürs Wasser hat auch viel abgekriegt." Internet und Mobilfunk seien schon vor der Flut eine Katastrophe gewesen.

"Alles Quatsch"

Aber nicht in Schuld werden jetzt Schuldige gesucht, sondern bei der Opposition in Berlin. Bundesinnenminister Horst Seehofer und das für Katastrophen zuständige Bundesamt hätten früh Bescheid gewusst – aber spät oder gar nicht gewarnt. "Alles Quatsch!", sagt Lussi. "Starkregen- und Hochwassergefahr waren bekannt. Aber von 60 Zentimeter Wasserstand in drei, vier Stunden auf 7,87 Meter ...?"

Schräg gegenüber von Schlössers Bäckerei schreddert eine Maschine alles, womit das Wasser Schuld zugemüllt hat, Lastwagenladung für Lastwagenladung, doch die Berge werden nicht kleiner.

Über dem Dorf liegen Wolken aus dreckigem Staub. Hauptmann Howe sagt: "Diese Wucht der Natur. Dieser Zusammenhalt. Diese Hilfsbereitschaft im ganzen Land." Bürgermeister Lussi ergänzt: "Wir brauchen einen langen Atem." Derweil plätschert die Ahr. (Cornelie Barthelme aus Schuld, 19.7.2021)