Es gibt 1.000 gute Gründe, darauf zu verzichten, ein Bild öffentlich zu machen: Persönlichkeitsrechte Dritter, Grausamkeit, Obszönitäten zum Beispiel. Im Zweifelsfall ist "Lieber nicht!" immer die beste Entscheidung.

Ich dachte, die Skala der Ausschließungsgründe in der Praxis ziemlich durchzuhaben. Ich war auch sicher, dass sich die "Neins" ausschließlich auf jener negativ konnotierten Seite der Skala bewegen.

Thomas Rottenberg

Aber dann, es war vor zwei Wochen, liefen wir rund um den Körbersee. Und als ich die unterwegs geschossenen Bilder dann sah, bekam ich Skrupel. Skrupel, die ich noch nicht gehabt hatte: Das hier war zu schön. Ganz ohne Nach- oder sonstige Bearbeitung und ohne jede Inszenierung sah das, was da auf der Speicherkarte zu sehen war, aus, als hätten wir für einen Tourismuskatalog gepost oder das Making-of eines Lauf-Heimatfilms begleitet.

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Die Sache ist nämlich die: Nach der Gravel-Bikerei im Bregenzerwald hatten wir noch ein paar Familienbesuchstage in der Region drangehängt. Als Kind kannte ich den Ort Warth nur aus dem Verkehrsfunk als "... die gesperrte Strecke Lech–Warth". Später lernte ich Warth als traumhaft abgelegene Ski-Destination kennen: Die Art und Weise, mit der der Warther Skipionier und Pfarrer Johann Müller 1894 die Walser Gemeinde wintersportlich mit Lech verbunden hatte, hätte von mir aus nicht geändert werden müssen: per Skitour nämlich – auch wenn ich den wirtschaftlichen Sinn der 2014 dann geschlossenen Liftlücke nach Lech natürlich verstehe. Aber weder vom Körbersee noch vom Biberkopf hatte ich bisher je gehört.

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Um zu begreifen, dass das ein grober Fehler war, hätte ich aber nicht erst hierher mitgenommen werden müssen: Mehr fernsehen hätte auch gereicht. Obwohl der Flash dann weit weniger gewaltig gewesen wäre, als in dem Moment, als wir vom Hochtannbergpass losliefen, unterwegs kein Klischee ausließen – und das trotzdem schlicht und einfach grandios war: Der Körbersee wurde am 26. Oktober 2017 in der TV-Sendung "9 Plätze – 9 Schätze" zum "schönsten Ort Österreichs" gekürt. Und auch wenn ich weder weiß, nach welchen Kriterien da ge- und bewertet wurde, noch, ob das Votum 2016 oder 2018 wohl anders ausgegangen wäre, auch wenn ich mit solchen Superlativen ein Problem habe, ist eines unbestritten: Der 3,5 ha kleine, acht Meter tiefe, auf 1.675 Metern liegende See ist atemberaubend und geradezu unglaubwürdig-kitschig schön. Hätten da nicht ein paar Prolo-Wanderer mit laut wummernden Bluetooth-Soundboxen über den Weg und das Ufer ihr gut einen Kilometer weit nicht zu überhörendes Bummbumm gelegt, wäre das Heimatfilm-Setting wahrscheinlich so perfekt gewesen, dass ich Zahnschmerzen bekommen hätte.

Thomas Rottenberg

Aber das ist wohl der Preis, den man für so einen Titel zahlen muss: Wir waren während der Woche da – und hatten, sagten uns Auskennerinnen, ohnehin richtig Glück.

Denn an schönen Wochenendtage geht es auf den breiten und solide und auch für alles andere als trittfeste Personen bequem und sicher begeh- und beradelbaren, geschotterten Wegen angeblich mitunter so zu, dass schon zügiges Gehen ein echter Slalom sei.

Und auf den paar "echten" Trailpassagen herrsche dann dichtester Halbschuh- und Sandalentouristen-Schleichkolonnenverkehr.

Thomas Rottenberg

Verstehen Sie mich nicht falsch – und unterstellen Sie mir jetzt bitte keine "Ich darf, aber ihr schleichts euch bitte"-Attitüde. Ich finde es super, dass es solche Destinationen und alpine Ausbauzonen gibt: Nicht jeder ist mobil genug, sich in "echte" Bergwelten vorwagen zu können. Und bevor Ahnungslose, die wollen, aber nicht können, sich selbst (und in weiterer Folge oft genug auch andere) in Gefahr bringen, ist es gut und richtig, hier Schönheit und Zauber der Natur niederschwellig und sicher erleb- und – ja, ganz bewusst – konsumierbar zu machen.

Der überwiegende Teil dieser Bergspaziergänger verhält sich absolut korrekt, respekt- und rücksichtsvoll. Staunt und bewundert und erkennt auch die Zerbrechlichkeit der Details hinter und in der massiven Wucht und demutgebietenden Kraft des alpinen Umfeldes: Das ist gut, richtig und wichtig so.

Thomas Rottenberg

Daran ändert auch der in jeder Bevölkerungsgruppe in etwa gleich hohe Anteil an Idioten (Soundsysteme, Zigarettenstummel, Müll) nichts – und die wohl unvermeidlichen Naturerklär-Mansplainer (die im Übrigen oft absolut geschlechtsneutral ungefragt herumgscheitln) kann man ja auch lächelnd mit einem "Danke für den Input" ignorieren. Diskutieren ist nämlich sinnlos: Nein, das Schwimmen in Bergseen ist weder verboten ("Gebirgswasser ist außerdem gesundheitsgefährdend kalt!"), noch ist das Trinken ihres Wassers – und auch aus kleinen Bergbächen – lebensgefährlich ("Die Tierkadaver im Wasser vergiften es! Kauft Getränke in der Hütte!").

Wen derlei zu sehr stört, der oder die kann ja von den breiten Trampelpfaden jederzeit abbiegen – und in ausgesetztem Gelände Spaß haben.

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Traumhaft schön ist es hier schließlich überall. Und auch wenn wir auch für "alpines" Traillaufen alles mit dabei hatten, steht ja nirgendwo geschrieben, dass man Notfalls- und Sicherheitsequipment nicht auch in einem zivilisierten Umfeld spazieren tragen darf: Besser so als umgekehrt – der Plan lautet ja ohnedies in jedem Fall, die sicherheitsrelevanten Ausrüstungsgegenstände (Erste-Hilfe-Set, Rettungsdecke, Mütze, Handschuhe, Windjacke und Trillerpfeife) tunlichst unbenutzt wieder mit nach Hause zu bringen.

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Dass wir diese Regel tags zuvor nicht zu 100 Prozent erfüllt hatten, stimmt allerdings: Ja, die kleine Runde von Warth zum Biberkopf führt bei Kaiserwetter lediglich einmal rund um den 1.914 Meter hohen "Grüner". Da passen Wasser und Ausrüstung für zwei locker in einen Rucksack. Das ändert aber nichts daran, dass im Gelände jeder und jede das eigene Zeug immer bei sich haben sollte. Ja, auch auf der "Hausrunde".

Weiß ich eh. Predige ich selbst immer. Und zog dann auch schuldbewusst den Kopf ein, als der Bergretter in der Familie sich demonstrativ räusperte.

Denn daran, dass diese Runde Laufen im alpinen Gelände ist, besteht kein Zweifel: Der Weg hinauf zum Schrofenpass ist hübsch blockig, steil und auch als reiner Wanderweg durchaus anspruchsvoll – auch wenn er stark frequentiert ist. Zum einen, weil allein schon der Hammerblick vom Pass aus hinüber zur Mindelheimer Hütte, von der täglich Dutzende Wanderer nach Warth kommen, den knackigen Anstieg allemal wert ist.

Zum anderen, weil durch das Tal zwischen Mindelheimer Hütte und Pass ein Rad-Trail führt – und auch die Biker dann hier herüberkommen: Wer hier geht oder fährt, sollte wissen, was er oder sie tut – und in der Regel funktioniert das auch.

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Nach dem Schrofenpass geht es dann auf etwa 1.700 Metern quer zum Hang durch Latschen und mit immer neuen Traumblicken weiter: Trittfest und schwindelfrei sollte man aber sein, egal ob man läuft oder geht.

In Wirklichkeit ist genau das eh egal. Laufen ist im Grunde schnelles Wandern, und das Schöne am Traillaufen ist ja, dass es meist nicht einmal ansatzweise so verbissen-kompetitiv gelebt wird wie Straßenlaufen: Ob ich stehen bleibe, weil mich der Ausblick umhaut, oder ob ich einfach Luft brauche, macht keinen Unterschied. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob das eine nicht ohnehin das andere bedingt.

Thomas Rottenberg

Etwa weil sich da nach einer kleinen Kurve plötzlich eine weite Senke auftut. Nicht einfach grün, sondern "sattgrün". "Auf dem Falken" heißt der kleine Gipfel gegenüber (1.877m) südlich davon ragt der Biberkopf knappe 2.600 Meter in die Höhe: Was auf der Karte ein kleiner See (Schänzlsee) ist, ist in Wirklichkeit manchmal eher sumpfig. Mit dem Bächlein (der Bürgerbach), das aus ihm in Richtung Bayern sprudelt, kann dieses Eck in Sachen Heimatfilmkompatibilität aber trotzdem mit dem Körbersee mithalten.

Thomas Rottenberg

Mit einem Unterschied: Hier – zwischen der Hinteren und der verfallenden Vorderen Lechleitner Alpe – war genau niemand. Außer ein paar Kühen.

Und beim sehnsüchtigen Blick auf die ewig lange Flanke vom Biber- zum Hundskopf brauche ich gar nicht zu fragen: "Oh ja, im Winter beim Tiefschnee-Fahren kannst du hier Line neben Line setzten. Du solltest halt früh da sein – und sehr genau wissen, was du tust."

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Technisch gesehen sind wir hier übrigens gar nicht auf dem Arlberg. Auch wenn wir beim Weg zurück nach Warth dann sehen, was zumindest touristisch unter "Arlberg" läuft, kann man mit der Frage, wo genau und was der Arlberg eigentlich ist, recht viel Spaß haben: Den Arlberg gibt es nicht. Nicht als Berg: Er ist lediglich ein 1.793 Meter hoher Pass, der nach den Arlenbüschen (also Latschen) benannt ist.

Touristisch hat sich der Begriff aber längst als Marke einer ganzen Region etabliert – zu der Warth spätestens seit der Liftverbindung mit Lech gehört.

Thomas Rottenberg

Dass "Berg" in der Sprache der Walser über Jahrhunderte für "Pass" stand, sei nur am Rande erwähnt. Niemand, der halbwegs bei Trost war, hätte bis ins 19. Jahrhundert im Traum daran gedacht, Bergmassive und Gipfel nicht als Hindernis, sondern als Sehnsuchtsorte zu definieren.

Heute ist das anders, spielt beim Wandern – und auch beim Laufen – aber keine Rolle.

Thomas Rottenberg

Oder vielleicht ja doch. Wer sich dessen bewusst ist, genießt und feiert die Zeit draußen vielleicht, hoffentlich, mit noch einem Quäntchen mehr Respekt und Demut als zuvor. Erkennt, dass es ein Privileg ist, hier sein zu können und zu dürfen. Und spürt gerade an Orten, die man nicht mit Seilbahn oder Shuttle erreicht, was wirklich zählt:

Jene Glücksmomente nämlich, die man für Geld nicht kaufen kann. (Thomas Rottenberg, 20.07.2021)

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