Abigail (Katherine Waterston) entdeckt ihre Zuneigung zu Tallie (Vanessa Kirby), ihrer Nachbarin mit dem roten Haar, die modern und scharfzüngig wirkt.

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Neuengland, 1856: Das Leben des Siedlerpaares Abigail und Dyer auf einem kleinen Waldhof ist hart. Nachdem ihre Tochter an Diphtherie gestorben ist und damit auch dasjenige, was das Paar emotional verbunden hat, herrscht reine Pragmatik vor: Dyer, der gutmütige, aber spröde Ehemann, kümmert sich um den Hof, Abigail, seine zarte, kluge Frau, um das Haus. Beide führen Buch, doch in Abigails Aufzeichnungen mischt sich Pflichtbewusstes mit dem Poetischen – sie schreibt, um ihren Gefühlen und auch ihrer Trauer Raum zu geben.

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Abigails fesselnde Zustandsbeschreibungen geben den Ton in dem zweiten Langfilm der jungen norwegischen Regisseurin Mona Fastvold vor und zeugen von ihrer Trauerbewältigung und dem Aufblühen einer neuen Liebe – nicht zu Dyer, sondern zu Tallie, der Nachbarin mit dem roten Haar.

Tallie spricht anders als die sich gewählt ausdrückende Abigail oder der schwerfällige Dyer. Sie klingt auffallend frisch und modern, wenn sie scharfzüngig in Abigails Küche tratscht. Aus der Freundschaft der zwei deplatzierten Bauersfrauen entwickelt sich bald eine stürmische Liebe, die sie abseits der Männerblicke ausleben.

Erfolgsformel Lesbendrama

Noch eine lesbische Liebesgeschichte im historischen Kostüm in einer abgelegenen Gegend? Die Vergleiche zu Portrait of a Lady on Fire (Celine Sciamma, 2019) und dem bald anlaufenden Ammonite mit Saoirsie Ronan und Kate Winslet als Liebespaar drängen sich geradezu auf. "Lesbian Period Drama – you get one a year. Make the most out of it!", amüsiert sich schon die US-amerikanische Comedyshow Saturday Night Live, die das Erfolgsrezept in einem ihrer Sketche parodiert.

Doch die Parodie ist großteils wohlwollend, sind das doch alles großartige Schauspielerinnenfilme, die mit starken Bildern und viel Sensibilität dem Hollywoodmainstream etwas entgegensetzen.

In The World to Come gibt es keine Klippen und kein Meer, die für Brontë’sche Leidenschaft stehen, stattdessen folgt das Leben dem Bauernkalender. Die Jahreszeiten und Gezeiten sind unter natürlichen Lichtbedingungen in Rumänien auf 16-mm-Analogfilm gefilmt.

Das bewaldete Siedlertal bekommt so einen sanften Nebelschleier, und auch Haut, Haare und Augen der Hauptdarstellerinnen reflektieren besonders schön im Dunkel des Analogen. Das erinnert erfreulich an Robert Altmans Bildsprache im 1971er-Siedlerstück McCabe & Mrs. Miller.

Abigails Küche ist auch nicht Sapphos Insel. Die Ehemänner drohen die Zweisamkeit ständig zu stören, und schon das kleinste Knacken im Wald lässt Abigail und Tallie aufschrecken. Deshalb wünscht sich Abigail nichts mehr als einen goldenen Käfig, in dem sie ungestört ihre Liebe leben können.

Das einfache Heim

Tallie bevorzugt die Freiheit, denn sie lebt bereits in einem Käfig, der zwar nicht golden ist, aber doch komfortabler als das einfache Heim von Abigail und Dyer. Doch ihr grober Ehemann Finney, dessen Moral aus falsch zitierten Bibelstellen zusammengepflückt ist, verdächtigt sie der Untreue. Als sie dann auch ihre "ehelichen Pflichten" nicht erfüllt und ihm ein Kind verweigert, spitzt sich die Lage zu.

The World to Come lief bei den letztjährigen Filmfestspielen von Venedig im Wettbewerb, wo Tallie-Darstellerin Vanessa Kirby, die Serienfans als junge Princess Margaret aus The Crown bekannt sein dürfte, den Preis als beste Schauspielerin gewann. Sie holte sich den Preis allerdings für Kornél Mundruczós Pieces of a Woman.

Mit Katherine Waterstons Abigail, Casey Affleck als Dyer – immer eine gute Besetzung für brütende, schweigsame Charaktere – und zudem Christopher Abbott als Finney, der derzeit auch in Horrorthriller Possessor glänzt, ist das Schauspielensemble geradezu perfekt.

Im Machtspiel der Erwartungen und Forderungen an die jeweils andere Person als Ehepartner und Ehepartnerin, als Freundin und auch Geliebte wächst die Spannung zwischen den vier ungleichen Charakteren. Romantischen Kitsch sucht man in dem Kammerspiel denn auch jederzeit vergebens. Stattdessen ist The World to Come eine poetische und psychologisch faszinierende Studie über Freiheit, Liebe und Verlust. (Valerie Dirk, 21.7.2021)