Tabula rasa: Passanten suchen nach Inschriften – vergeblich.
Foto: Lachlan Blair / Loxpix.com

Vielleicht würde der vier Meter hohe Steinquader den vorbeieilenden Menschen mehr auffallen, wäre er nicht von Baustellen umgeben. Es hämmert und dröhnt, der Asphalt auf dem Wiener Graben brennt in der Hitze. Doch einige Aufmerksame bleiben dennoch stehen und betrachten den Neuling auf dem Kunstplatz inmitten der Einkaufsmeile, der immer wieder mit öffentlichen Werken bespielt wird. Letzten Sommer sorgte hier die rote Metallzunge von Alexandra Bircken für Aufsehen.

Langsam wird der über 18 Tonnen schwere Stein, der hier nun für vier Monate verweilen darf, umrundet, mit Handflächen über die unbearbeitete Oberfläche gestrichen. Viele scheinen eine Inschrift oder zumindest ein Hinweisschild zu suchen – doch vergebens. (Die Informationstafel befindet sich auf einem etwa zehn Meter entfernten Geländer, zugegeben, zu weit weg!)

Doch das Momentary Monument – The Stone der italienischen Plastikerin und Installationskünstlerin Lara Favaretto nimmt genau diese Idee eines traditionellen Denkmals auf und stellt es als "leeres" und unbeschriebenes Kunstwerk in den öffentlichen Raum. Vorbeistreifende Touristen fotografieren die Pestsäule, den Leopoldsbrunnen und auch Favarettos Quader.

Naiv und sozial

In dieser Nachbarschaft macht die Skulptur ein schönes Kontrastprogramm, der figurativen Opulenz mit historischem Kern tritt eine reduzierte Rauheit samt fast naiver Unbescholtenheit entgegen. Da der Granit-Monolith weder in memoriam noch als Heroisierung für jemanden aufgestellt wurde, führt er das Konzept eines Denkmals ad absurdum. Und versetzt der aktuellen Debatte um Denkmalstürze einen Seitenhieb. Hier wird die Vergangenheit mit der Gegenwart ausgetauscht und als tonnenschwere Tabula rasa in die Welt geklotzt.

Zarte Konsumkritik auf der Luxus-Shoppingmeile: Skulptur mit Schlitz für Spendengelder.
Foto: Lachlan Blair / Loxpix.com

Favaretto, die 1973 in Treviso geboren wurde und in Turin lebt, hat Erfahrung mit ihren steinernen Umgetümen, seit 2009 baut sie ihre Serie der Momentary Monuments immer weiter aus. Exemplare standen bereits in Liverpool, Bergamo oder in Münster. In der deutschen Stadt sorgte sie 2017 bei den Skulptur-Projekten für Schlagzeilen, weil sie mit dem Werk 26.600 Euro Spenden einsammelte. Und zwar indem die ausgehöhlte Skulptur einer gigantischen Sparbüchse gleich einen kleinen Schlitz aufwies, in den Geld geworfen werden konnte. Dieses kam schließlich Menschen in Abschiebehaft zugute.

Ihr Monument auf dem Wiener Graben ist ebenfalls als soziale Skulptur angelegt, das Spendengeld soll diesmal an die gemeinnützige Organisation Sietar Austria gehen, die als Plattform interkulturelle Bildung und Zusammenhalt fördert.

Zerdroschener Stein

Die Künstlerin, die auf der Documenta 13, der Manifesta 10 sowie mehrmals auf der Venedig-Biennale ausstellte – 2019 hüllte sie die Fassade des zentralen Pavillons mit einer dicken Nebeldecke ein –, ist international für ihre temporären und spielerischen Installationen bekannt, die sie auch schon im MoMA PS1 zeigte. Oft bestehen diese aus sich selbst abbauenden Materialien, wie buntem Konfetti, oder sie werden nach der Ausstellungszeit demontiert und zerstört. So ergeht es ihren Momentary Monuments, die also tatsächlich wie ein Sparschwein geschlachtet werden müssen, damit man an das angesparte Geld gelangt.

Auch in Wien wird der zerdroschene Stein schließlich zu Schotter verarbeitet, der dann an Baufirmen geliefert wird. Eventuell profitieren die angrenzenden Baustellen?

Die Interaktion mit dem Standort darf jedenfalls auch als zarte Konsumkritik interpretiert werden: Anstatt Geld in den angrenzenden Luxusboutiquen zu lassen, könnten ja ein paar Scheine (oder Münzen) in den Schlitz in der gastierenden Skulptur geschoben werden. Spätestens im nächsten Lockdown dann! Bis 5. November gibt es die Möglichkeit dazu. (Katharina Rustler, 21.7.2021)