Auf dem Weg in die Todeszone. Die beiden Freunde bei ihrem Everesting-Versuch auf dem Anninger.

Foto: Pistrol

Mama Pistrol kam frühmorgens mit Eierspeise als Aufbaunahrung.

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Motivationshilfe am Oberrohr. Jede Runde ein Abriss, und fast immer wurde ein neuer Gipfel erklommen.

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Pistrols Weapon of Choice: das Liteville H3 Mk3 Hardtail. Die Gabel hat er etwas abgesenkt, Klickpedale und Reifen mit weniger Rollwiderstand montiert.

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Mödling – Die Corona-bedingten Lockdowns waren lang. Viele nutzten diese Zeit, um neue Hobbys zu entdecken. So auch der Extrem-Mountainbiker Johannes Pistrol (34) und sein Radlkollege Carl Thümecke. "Carl ist ein wichtiger Partner für mich. Wir fahren viel zusammen und stacheln uns gegenseitig an", erzählt Pistrol. Schon vor der Pandemiezwangspausen bei Laune zu halten, hat das Duo einiges ausprobiert: "Bahnradfahren haben wir versucht, und wir sind mit dem Rennradl von Wien nach Klagenfurt gefahren." Und dann fanden sie im Internet einen Beitrag zum Thema "Everesting".

Die Idee dahinter ist simpel: Man sucht sich einen Berg – oder wie im Fall der beiden Niederösterreicher bzw. Wiener einen Hügel – und fährt denselben so lange hinauf und dazwischen natürlich wieder hinunter, bis man insgesamt 8.848 Höhenmeter beisammen hat. So kann jede und jeder den höchsten Berg der Welt per Fahrrad erklimmen, selbst in Niederösterreich.

Zu Ehren des lange verschollenen Opas

Angeblich war es der Brite George Mallory, der 1994 die Idee zum Everesting hatte. Sein gleichnamiger Großvater war Alpinist und galt seit 1924, als er versucht hatte, den echten Mount Everest zu besteigen, bis 1999 als verschollen. (Danke an die User jarno saarinen und tisiphone13 für den Hinweis, dass Mallorys Leichnam 1999 gefunden wurde. Anm.) Ihm zu Ehren soll der Enkel Mallory achtmal den 1.069 Meter hohen Mount Donna Buang in Australien mit dem Fahrrad erklommen haben. Ein neuer Trendsport ward geboren.

Johannes Pistrol und sein Freund Carl haben ihren Hausberg, den 675 Meter hohen Anninger, als Schauplatz ihres Achttausenderversuchs gewählt. "Das ist unser Haushügel, da kennen wir die Strecke", erklärt Pistrol die Streckenwahl. Als wichtigen Tipp für Nachahmer empfiehlt er: "Unbedingt einen Anstieg wählen, auf dem man unter Normalbedingungen noch zwei Gänge zum Runterschalten übrig hat." Denn 8.848 Höhenmeter können sehr lang und die Beine sehr schwer werden. Der psychologische Aspekt beim Everesting sollte nicht unterschätzt werden, warnt Pistrol.

Motivation als Schlüssel zum Erfolg

Er selbst hat sich zur Motivation zum Beispiel einen Zettel aufs Oberrohr geklebt. Darauf hat er notiert, welchen Berg er nach wie vielen Runden erklommen hat. Für fast jede der 25 Runden gab es einen Berg. Runde zehn, was 3.600 Metern entsprach, war etwa der Großvenediger, Runde 16 der Elbrus, Runde 22 der Gasherbrum IV. Neben jedem Namen war ein kleiner Abriss. "Das hat mich enorm motiviert, nach jeder Runde diesen Zettel abzureißen", erklärt Pistrol.

Die beiden Freunde wählten Hardtails für ihren Everesting-Versuch auf dem Anninger. "Keine Race-Räder, nur etwas getrimmte Mountainbikes. Ich habe bei meinem Liteville H3 Mk3 die Freeride-Gabel abgesenkt, Klickpedale montiert und etwas leichter rollende Reifen als üblich aufgezogen", erzählt Pistrol.

Bergauf und bergab ging es über den Forstweg. Zwar hatten sie überlegt, die Abfahrten über einen Trail zu absolvieren, doch aus Sicherheitsgründen entschieden sie sich dagegen. Die Konzentration lässt nach stundenlanger Belastung nach, und die beiden wollten keine Stürze riskieren. Speziell vorbereitet haben sie sich nicht. "Wir haben im Vorfeld ein bisschen Höhenmeter gesammelt und sind die Hausrunde noch einmal abgefahren zum Test", erzählt Pistrol.

Start am Abend

Für ihren Everesting-Versuch wählten sie den 1. April. Start war um 20 Uhr abends. Die Zeit haben sie bewusst gewählt, wie Pistrol sagt: "Ich wollte auf keinen Fall ein zweites Mal in die Dunkelheit kommen, schon aus Motivationsgründen." Bei Tageslicht kamen Freunde vorbei und begleiteten die beiden auf der einen oder anderen Runde. Nachts waren sie hingegen allein unterwegs. 26 Runden galt es insgesamt zu absolvieren, um den Mount Everest in Niederösterreich zu bezwingen.

Der Tiefpunkt war für Pistrol kurz vor Sonnenaufgang am 2. April, wie er erzählt: "Ich bin kein Fan der Kälte. Um die Zeit war es finster und sehr kühl, gar nicht meins." Doch Rettung nahte in Person von Mutter Pistrol, die pünktlich zum Sonnenaufgang mit einer selbstgemachten Eierspeise wartete, die den beiden Radlern Kraft und neue Motivation verschaffte. Bei derlei langen Anstrengungen, erklärt Pistrol, sei es wichtig, schon vorab genug zu essen, auch wenn man noch gar kein Hungergefühl verspürt.

Die Frage der Ernährung

Für ihren Everest-Uphill setzten die beiden vor allem auf Reiskuchen. Pistrol hatte vor Jahren an einem 24-Stunden-Rennen teilgenommen und wusste von damals, "dass die süßen Müsliriegel irgendwann grausig werden". Er empfiehlt daher eher salzige Speisen, wie etwa Nüsse. Zu trinken gab es vor allem Wasser. "Jede dritte oder vierte Runde habe ich etwas Elektrolytpulver dazugemischt, aber auch das wird irgendwann grausig", berichtet er. Ihr Depot für Verpflegung hatten die beiden am Fuße des Anstieges. Dort gab es nach jeder Runde eine kleine Stärkung.

Pistrol ist in der Mountainbike-Szene als Technikspezialist bekannt, der extrem anspruchsvolle Trails bewältigt. Für weltweites Aufsehen sorgte 2014 seine Befahrung der Steinernen Rinne im Wilden Kaiser. Für solche Abenteuer trainiert der 34-jährige frischgebackenen Vater einer Tochter auf dem Anninger. "Es braucht dazu gar nicht die ganz hohen Berge, ich finde auch hier genug technisch schwierige Passagen zum Üben." Das Wegenetz in Ostösterreich sei vielfältig genug, sagt Pistrol, der im Brotberuf Assistenzprofessor am Institut für Geotechnik der TU Wien ist.

Radfahrer aus Leidenschaft

Für seine spektakulären Befahrungen der schwierigsten Trails der Alpen übt Pistrol in den Hügeln rund um seine Wiener Heimat. Hier hat er das Mountainbiken kennen und lieben gelernt. "Das kennt eh jeder, auf wenn man auf verschiedenen Strecken unterwegs ist gibt es immer ein paar Stellen, die nicht auf Anhieb klappen. Da gibt es dann jene, die sich sagen: 'Geht nicht, dann schiebe ich halt.' Und es gibt jene, die das ärgert, wenn sie absteigen müssen. Ich gehöre zu Letzteren." Er sei "komplett in diesen Sport hineingekippt", sagt er. Seither sucht er gezielt nach schwierigen Stellen, um an seiner Technik zu feilen.

Das Rüstzeug für derlei Abenteuer hat sich Johannes Pistrol auf dem Anninger angeeignet.
Big Col

Beim Everesting war es nicht anders. Die Idee hat Pistrol, der als Teamfahrer für die deutsche Bikeschmiede Liteville unterwegs ist, sofort begeistert: "Es ist großartig, weil man es überall machen kann. Es gibt sogar welche, die haben in ihrer Hauseinfahrt den Everest erklommen." Er selbst hat nach dem ersten Versuch noch lange nicht genug: "Ich würde es gern noch einmal mit dem Rennrad versuchen, weil das einfach viel leichter ist."

Kuriose Everesting-Rekorde

Insgesamt haben die beiden Freunde 16,5 Stunden gebraucht, um in Niederösterreich den Everest hinaufzufahren. Doch die Zeit war ihnen nicht wichtig, wie Pistrol sagt: "Das Tolle am Everesting ist: Wer es schafft, ist ein Sieger." Die aktuell schnellste Zeit, so weiß Pistrol, liegt bei rund sieben Stunden. Im Internet finden sich allerlei kuriose Rekorde rund um das Everesting. So war der Jüngste, der je per Rad die 8.848 Höhenmeter abspulte, der Waliser Tom Seipp im Jahr 2016.

Ein gewisser Manuel Scheidegger soll in einer Zeit von rund 20 Stunden sein Everesting auf dem Hinterrad, als Wheelie, abgespult haben. Der Ire Alan Colville steht für seinen dreifachen Everest im Guinness Buch der Rekorde. Er schaffte in 48 Stunden mehr als 30.000 Höhenmeter. Herr Ben Soja soll der Erste gewesen sein, der ein Everesting mit dem Einrad geschafft hat. Er benötigte dafür kolportierte 23 Stunden. Die erste Frau, die den Everest per Bike bezwungen hat, war laut Wikipedia Sarah Hammond im Jahr 2014.

Auch in Innsbruck wurde ein Achttausender bezwungen

Auch in Innsbruck sorgte vor einigen Monaten ein junger Mountainbiker mit seinem Everesting-Versuch auf dem Arzler-Alm-Trail für Furore in den sozialen Medien. Er hat seine Fahrt quasi live übertragen und immer wieder Updates geliefert. Falls jemand der hier Mitlesenden den jungen Mann kennt, bitte ihm Hochachtung zu bestellen. Er hat trotz widriger Wetterbedingungen durchgehalten.

Pistrol und sein Freund Carl haben ihren Everesting-Versuch nach 26 Runden erfolgreich beendet. "Zwei Drittel der Höhenmeter machen die Beine, das restliche Drittel der Kopf", haben sie dabei gelernt. (ars, 21.7.2021)