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Warschau, 21. April: Polizisten bewachen das Höchstgericht, eine Demonstrantin demonstriert.

Foto: AP/Czarek Sokolowski

Brüssel – Im Streit über das neue Disziplinarrecht für Richter in Polen hat die EU-Kommission der Regierung in Warschau ein Ultimatum gestellt. Wenn diese nicht bis zum 16. August ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) umsetze, würden Geldstrafen fällig, erklärte Kommissionsvizepräsidentin Vera Jourova am Dienstag. Man habe Polen in einem Brief um eine Bestätigung gebeten, dass den Vorgaben des Gerichts "vollständig nachgekommen" werde. Über die Höhe einer etwaigen Strafe würde demnach der EuGH entscheiden. Eine Stellungnahme aus Warschau lag zunächst nicht vor.

Die Disziplinarkammer war von der Regierung der nationalistischen PiS-Partei als Teil einer umstrittenen Justizreform eingeführt worden. Der EuGH befand am 15. Juli, dass das neue Recht nicht alle Ansprüche an die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit von Richtern erfülle. Diese seien insbesondere nicht vor dem Einfluss der Regierung oder des Parlaments geschützt. Polens Oberstes Gericht befand jedoch alle einstweiligen Anordnungen des EuGH als verfassungswidrig und erklärte, dass Polen ihnen daher nicht Folge leisten solle. Damit werden nationale Gesetze vor europäische gestellt, ein Verstoß gegen einen zentralen EU-Grundsatz.

Rechtsstaat in Polen und Ungarn in Gefahr

Die EU-Kommission sieht den Rechtsstaat in Polen und Ungarn weiterhin in Gefahr. Der am Dienstag veröffentlichte zweite Jahresbericht der Brüsseler Behörde zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in allen 27 EU-Staaten kritisiert erneut vor allem Entwicklungen in diesen beiden Ländern. Demnach stellen die Regierungen in Warschau und Budapest die Unabhängigkeit der Justiz und die Pressefreiheit infrage und unternehmen nicht genug gegen Korruption.

"Ernste Besorgnis" äußerte Brüssel etwa darüber, dass Polens Regierung richterliche Anordnungen des Europäischen Gerichtshofs weiterhin nicht umgesetzt hat. Die Luxemburger Richter hatten unter anderem die Aussetzung der umstrittenen Disziplinarkammer für polnische Richter gefordert. "Doch sie trifft weiterhin Entscheidungen mit direkten Auswirkungen", beklagte die Kommission.

"In Ungarn gibt es weitere Veränderungen in Richtung einer Absenkung bestehender Schutzmaßnahmen" für die Unabhängigkeit der Gerichte. Etwa die Ernennung von Zsolt Andras Varga zum Präsidenten des Verfassungsgerichts entgegen den Widerspruch des Nationalen Justizrates sei höchst bedenklich.

Werbeträger Staat

Auch um die Medien in den beiden Ländern ist es laut Kommission schlecht bestellt. Die ungarische Regierung nehme durch intensives Schalten von Werbeanzeigen "indirekt politischen Einfluss" auf die Presse. Der Staat sei "der größte Werbeträger im Land, und ein Großteil der Einnahmen geht an Medienunternehmen, die als regierungsfreundlich gelten."

Ganz ähnlich sei dies in Polen. Dort stelle außerdem die geplante Übernahme eines großen Pressekonzerns durch ein Staatsunternehmen eine "potenzielle Bedrohung für den Pluralismus auf dem Medienmarkt" dar.

Der 2020 erstmals erstellte Rechtsstaatsbericht bewertet nach Angaben der Kommission anhand einheitlicher und objektiver Kriterien die Lage in allen 27 EU-Ländern. Wie bereits im vergangenen Jahr hat Brüssel in einer ganzen Reihe von Ländern Probleme ausgemacht. Auch in Slowenien würden Journalisten von offizieller Seite angegangen, hieß es.

Kritik auch an Österreich

Bei Österreich wurden Bedenken wegen politischer Störfeuer bei Korruptionsermittlungen und hinsichtlich des hohen Ausmaß an Regierungsinseraten in Medien geäußert. Zudem bleibe die Kontrolle von Parteienfinanzierung ein Problem, hieß es.

Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) sagte, die Kommission habe klar bestätigt, dass in Österreich gerade auch im innereuropäischen Vergleich ein überaus hohes Maß an Rechtsstaatlichkeit vorhanden sei. Im Hinblick auf die Kritik der EU-Behörde betonte sie: "Die Justiz ermittelt frei und unabhängig. Kritik muss in einem Rechtsstaat aber an jeder Institution möglich sein."

Edtstadler verteidigt Inserate

Zur Kritik an den Inseraten erklärte Edtstadler, der Berichtszeitraum umfasse die Bewältigung der Corona-Krise, wo es von zentraler Bedeutung gewesen sei, die Öffentlichkeit wirksam und treffsicher zu informieren. Die Kritik richte sich auf alle staatlich finanzierten Inserate. Die Regierung mache hier nur einen kleinen Teil der 223 Millionen Euro aus, dies sei weniger als ein Viertel. Umfasst sei genauso die Stadt Wien, die "enorme Summen" für Inserate ausgebe.

Die Kommission sieht insgesamt aber eine positive Tendenz. "Nach dem ersten Bericht erhielten wir eine Reihe von Aktionsplänen und Reformprojekten, um die angesprochenen Bedenken zu beseitigen", sagte EU-Justizkommissar Didier Reynders. In diesem Rahmen habe Rumänien etwa begonnen, kritisierte Justizreformen rückgängig zu machen.

Mit Polen und Ungarn sei der Austausch aber "etwas komplizierter", gestand Reynders. In den beiden Ländern "befinden wir uns in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit in einer eher systemischen oder systematischen Situation".

Die Regierungen in Budapest und Warschau stehen seit Jahren wegen rechtsstaatlicher Verfehlungen am Pranger der EU. Gegen beide Länder laufen Strafverfahren, die bis zum Entzug von Stimmrechten in der EU führen könnten. Bisher hat dies aber keine wesentlichen Kursänderungen bewirkt. (APA, AFP, Reuters, 20.7.2021)