Washington/Berlin – Im deutsch-amerikanischen Streit um Nord Stream 2 gibt es eine Einigung. Die Pipeline kann fertiggestellt werden, ohne dass Washington dies durch Sanktionen in letzter Minute zu verhindern versucht. Das bestätigte Victoria Nuland, Staatssekretärin im amerikanischen Außenministerium, am Mittwoch während einer Anhörung im Auswärtigen Ausschuss des US-Senats.

Kompromiss

Präsident Joe Biden ist also bereit, notfalls eine Kraftprobe mit dem eigenen Kongress zu riskieren, damit der von ihm so dringend angestrebte Schulterschluss mit Deutschland nicht länger durch den Konflikt um die Ostsee-Röhre überschattet wird.

Obwohl Abgeordnete beider Parteien, der Demokraten wie der Republikaner, noch auf der Zielgeraden einen Baustopp erzwingen wollen, hat sich das Weiße Haus mit dem Kanzleramt in Berlin auf einen Kompromiss verständigt. Damit wurde wenige Tage nach Angela Merkels Abschiedsbesuch in Washington ein Hindernis beiseite geräumt, das dem viel beschworenen Neustart nach den Irritationen der Trump-Jahre im Weg stand.

Bei ihrem Besuch in Washington sprach die deutsche Kanzlerin Angela Merkel mit US-Präsident Joe Biden auch über die Pipeline.
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Mit anderen Worten, nach gründlichem Abwägen von Pro und Contra misst Biden der Partnerschaft mit Berlin eine solche Bedeutung bei, dass er ein Projekt, das auch er ablehnt, nicht mehr zu verhindern versucht. In seinen Augen ist Deutschland der wichtigste Verbündete in Europa, zudem eine Wirtschaftsmacht, die er ins Boot zu holen hofft, will er einen härteren Kurs gegenüber China fahren. Kurzum, was Amerikaner gern "the big picture" nennen, das große, das globale Bild, hat Vorrang vor Bedenken, die er selbst teilt.

Ukraine-Bedingung

Wie das "Wall Street Journal" berichtete, noch bevor Nuland die Vereinbarung offiziell bestätigte, haben sich die USA und Deutschland auf Bedingungen verständigt, zu denen die Pipeline zu Ende gebaut werden kann. So wollen Washington und Berlin einen "grünen Fonds Ukraine" mit einer Anschubfinanzierung von 150 Millionen Euro aus Deutschland einrichten, bei dem es auch um Wasserstoffprojekte, Energieeffizienz und erneuerbare Energie gehe.

Zudem wollen sie sicherstellen, dass Kiew auch nach Fertigstellung der Leitung jene rund drei Milliarden Dollar pro Jahr an Transitgebühren erhält, die ihm gemäß einem bis 2024 geltenden russisch-ukrainischen Abkommen über den Erdgastransit zustehen. Vereinbart sei Unterstützung für eine Verlängerung des Gas-Transitabkommens durch die Ukraine um weitere zehn Jahre.

Sanktionen gegen Russland vorbehalten

Schließlich behalten sich die USA das Recht vor, auch künftig Sanktionen zu verhängen, falls der Kreml die Pipeline als Waffe einsetzt, um Nachbarländer zu erpressen. Sollte Russland Energie als "politische Waffe" einsetzen, habe sich Deutschland zu nationalen Maßnahmen verpflichtet und werde auch auf EU-Ebene darauf hinwirken, dass es zu Sanktionen komme, hieß es aus Berlin zur Einordnung. Auf eine ursprünglich vom Weißen Haus geforderte Klausel, nach der die Gaslieferungen durch die Ostsee immer dann unterbrochen werden, wenn Russland ein aggressives Verhalten gegenüber Nachbarn an den Tag legt, hat man auf Drängen der Deutschen verzichtet.

Da es sich bei Nord Stream 2 um ein privatwirtschaftliches Vorhaben handle, sollen Merkels Unterhändler dem "Wall Street Journal" zufolge argumentiert haben, würde ein derart gravierender staatlicher Eingriff fast zwangsläufig Klagen vor Gericht nach sich ziehen.

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Nuland betonte, Bidens Regierung sei weiterhin der Überzeugung, dass Nord Stream 2 "ein schlechter Deal" sei, der die Abhängigkeit Europas von russischer Energie verstärke. "Aber wir müssen helfen, die Ukraine zu schützen."

Aus der Ukraine kam allerdings Kritik. Aus dem Büro von Präsident Wolodymyr Selenskyj hieß es am Mittwoch: "Die Entscheidung zu Nord Stream 2 kann nicht hinter dem Rücken all derer getroffen werden, die das Projekt real bedroht." Das könne nur bei einem persönlichen Treffen Selenskyjs mit Biden geklärt werden. Das Weiße Haus teilte am Mittwoch mit, ein Treffen Bidens mit Selenskyj sei für Ende August geplant.

Lob kam aus Moskau: "Diese Vereinbarung gibt uns die Möglichkeit, den Bau von Nord Stream 2 in Ruhe abzuschließen und den Betrieb vollständig aufzunehmen", sagte Wladimir Dschabarow vom Föderationsrat – das Oberhaus des russischen Parlaments – der Agentur Interfax.

Kritik an Biden: Sieg für Putin

Angesichts dieser russischen Rückmeldung ist es kein Wunder, dass allein schon die Nachricht über die anstehende Lösung des Streits die US-Kritiker umgehend auf den Plan rief. Ted Cruz, der Senator aus dem Öl- und Gas-Staat Texas, der die Pipeline-Sanktionen initiiert hatte, sprach von einem geopolitischen Sieg für Wladimir Putin, wie ihn der russische Präsident nur einmal in einer Generation feiern könne.

Für Amerika und seine Alliierten sei das Abkommen dagegen eine Katastrophe, schrieb er. Biden habe vor Putin kapituliert, noch in Jahrzehnten würden russische Diktatoren dank Bidens Geschenk Milliarden einheimsen, während Europa russischer Erpressung ausgesetzt sei.

Um Druck auszuüben, will Cruz durchsetzen, dass der Senat bereits nominierten, aber noch nicht bestätigten Staatssekretären des Außenministeriums die fällige Anhörung verweigert.

Monatelang wurde wegen der Gaspipeline von Russland nach Deutschland gestritten.
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Sein Kollege Pat Toomey, ein Republikaner aus Pennsylvania, einem Staat, der infolge der Fracking-Methode neuerdings reichlich Erdgas fördert und auf lukrative Flüssiggasexporte nach Übersee baut, verzichtete zwar auf Beschimpfungen, wurde aber in der Sache genauso deutlich. Jeder Deal, der grünes Licht für die Pipeline bedeute, sei grundfalsch. Biden müsse Sanktionen verfügen, um Moskau die Energie-Waffe aus der Hand zu nehmen, verlangte der Senator.

Knifflige Kongresssitzung

Was bei alledem auffällt, ist die Tatsache, dass sich Demokraten, obwohl sie kaum weniger entschiedene Gegner des Projekts sind, mit Kritik am Präsidenten fürs Erste zurückhalten. Ob das auch in knapp vier Wochen so ist, wenn die Pipeline-Sanktionen den Kongress erneut beschäftigen werden, weiß heute niemand. Mitte Mai hatte Biden beschlossen, Strafmaßnahmen gegen die in der Schweiz ansässige Betreibergesellschaft von Nord Stream 2 für drei Monate auszusetzen. Mitte August muss er dem Parlament mitteilen, ob er den Verzicht verlängert. Falls ja, muss die Regierung eine Begründung mitliefern, mit der zumindest Teile seiner eigenen Partei leben können. (Frank Hermann aus Washington, red, APA, 21.7.2021)

Update um 20 Uhr: US-Diplomatin bestätigt Einigung

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