Das Multipurpose Laboratory Module (MLM) Nauka hat schon ein paar Jahre auf dem Buckel.
Foto: Roscosmos

Seit bald 23 Jahren zieht die Internationale Raumstation ISS über unseren Köpfen ihre Kurven. Als Grundstein platzierte am 20. November 1998 eine russische Proton-Schwerlastrakete das Lager- und Antriebsmodul Sarja im Orbit. Zwei Wochen später folgte das Verbindungsmodul Unity, ins All transportiert von der Space-Shuttle-Mission STS-88. Dieser auch Node 1 genannte Knoten stellt die Verbindung zwischen dem US-amerikanischen und dem russischen Teil der Station dar.

12 Jahre später, im February 2011, dockte das MPLM (Multi-Purpose Logistics Module) Leonardo an, das bislang letzte unter Atmosphäre setzbare Modul. Als letztes großes Bauteil wurde im selben Jahr der Teilchendetektor AMS zur Untersuchung von kosmischer Strahlung an der Raumstation installiert. Zu diesem Zeitpunkt bestand die Station aus 15 unter Druck stehenden Modulen, einige weitere hätten noch folgen sollen, darunter auch das Labormodul Nauka, dessen Start ursprünglich schon für 2009 vorgesehen gewesen wäre.

Start am späten Nachmittag

Nach zahllosen Verschiebungen und Planänderungen ist es nun aber doch noch etwas geworden: Am Mittwoch um 16.54 Uhr MESZ schickte Russland seine Nauka ("Wissenschaft") planmäßig auf den Weg zur Internationalen Raumstation – wodurch die ISS nach dem Andocken erstmals seit über zehn Jahren ihr permanentes Platzangebot erweitern wird.

Eine Trägerrakete vom Typ Proton-M brachte das 13 Meter lange Labor vom russischen Weltraumbahnhof Baikonur in der Steppe der zentralasiatischen Republik Kasachstan in den Orbit, wie Live-Bilder der Raumfahrtbehörde Roskosmos zeigten. Die Anreise zur Station in 420 Kilometern Höhe soll insgesamt acht Tage dauern.

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Eine Proton-M-Rakete hob Nauka in den Orbit. Die Anreise zur ISS dürfte acht Tage dauern.
Foto: AP/Roscosmos Space Agency

Unsichere Zukunft

Lange ist in Moskau gerätselt worden, ob das Weltraumlabor überhaupt jemals zum Einsatz kommt. Unzählige Male sind geplante Starttermine gestrichen worden, weil Probleme auftauchten oder Geld fehlte. Zuletzt hatte Russland seine künftige Beteiligung an der ISS infrage gestellt – und sich bis heute nicht eindeutig positioniert, wie lange die stolze Raumfahrtnation ihren Teil der Station betreiben will. Der Vertrag dazu läuft 2024 aus.

Europas langjähriger Raumfahrtchef Jan Wörner sieht den Start des Moduls als wichtiges Signal über den Tag hinaus. "Ich werte Nauka als klar positives Zeichen für eine längere Nutzung der ISS vonseiten Russlands", sagt der Ex-Leiter der Europäischen Raumfahrtagentur Esa.

Sarjas Schwester

Die Spitzen der russischen Raumfahrtbehörde Roskosmos dürften jedenfalls aufatmen, wenn Nauka in der kommenden Woche die ISS erreicht hat. Kritiker monieren schon seit Jahren, dass die Technik des Labors längst überholt ist. Mit dem Bau war bereits 1995 begonnen worden. Es war damals aber nur zu 70 Prozent fertiggestellt worden.

Nauka ist das Schwestermodul von Sarja, dem ersten Segment im All. Das 13 mal 4,11 Meter große und 20 Tonnen schwere Modul soll am russischen Segment Swesda, dem russischen Wohn- und Navigationsmodul der ISS, angebracht werden. Für die Fertigstellung wird mit mehreren Außeneinsätzen russischer Kosmonauten gerechnet. Am Ende soll Nauka 70 Kubikmeter Wohl- und Arbeitsraum beisteuern. Aktuell steht die ISS bei rund 1200 Kubikmeter Wohn- und Arbeitsraum.

Schlafplatz und Toilette

Als Mehrzweckmodul ist es vorrangig für die Forschung gedacht. Es bietet aber auch einen zusätzlichen Schlafplatz und – was bei Vollbesetzung mit sieben Crewmitgliedern und möglichen künftigen Touristen eine willkommene Bereicherung ist – eine dritte Weltraumtoilette. Es kann dort auch Sauerstoff und Wasser produziert werden.

Das Labor verfügt über drei Kopplungsadapter, einen für die ISS, zwei weitere für Sojus- oder Progressraumschiffe und zusätzliche große Solarpaneele. Außerdem kommt nun endlich auch der Roboterarm European Robotic Arm (ERA) zum Einsatz. Der Arm war von der Esa entworfen worden und wartete jahrelang auf seinen Start.

Nauka wird am russischen Wohn- und Navigationsmodul Swesda hängen.
Illustr.: NASA

Umzug zu neuer Raumstation?

Unklar ist angesichts der doch etwas betagten Technik, ob das Modul in einigen Jahren für die geplante neue russische Raumstation Ross genutzt werden könnte – zumal diese Station laut vorläufigen Planungen in einem gänzlich anderen Orbit fliegen soll.

Doch Russland braucht gute Nachrichten. Die Raumfahrtnation dürfte sich durch die jüngsten Erfolge von China und der USA herausgefordert sehen und den Start von Nauka auch als Lebenszeichen verstehen. In der Branche hatte man zuletzt nicht mehr den Eindruck, dass Russland bei der Erforschung des Weltalls vorne mitspielt. Mit der Mission dürfte sich für die bemannte russische Raumfahrt vieles entscheiden.

Verärgerte russische Wissenschafter

Unter russischen Wissenschaftern wuchs zuletzt der Unmut. "Wir waren in den vergangenen Jahrzehnten allgemein unzufrieden mit dem, was wir bei der Entwicklung und Erforschung des Weltraums geleistet haben", sagte im Frühjahr der Präsident der Russischen Akademie der Wissenschaften, Alexander Sergejew, der Staatsagentur TASS. "Dies liegt in erster Linie daran, dass es wirtschaftliche Schwierigkeiten gibt." Staatschef Wladimir Putin forderte zuletzt mehr Tempo, damit Russland nicht von anderen Raumfahrtnationen abgehängt wird.

Auch Roskosmos-Chef Dmitri Rogosin dürfte unter Druck stehen. Zuletzt wurde an der Fertigstellung des Moduls in drei Schichten gearbeitet. Rogosin dürfte sich dabei gerne den Erfolg ans Revers heften, ein seit 20 Jahren laufendes Projekt endlich abzuschließen.

Video: Auch der Europäische Roboterarm ERA hat lange auf seinen Einsatz gewartet.
European Space Agency, ESA

Unruhige Gegenwart, glanzvolle Vergangenheit

Offen ist, ob Moskau mit dem Start von Nauka nun doch bis mindestens 2028 an der ISS festhalten will, wie es sich bis zum Frühjahr angedeutet hatte. Rogosin knüpfte noch vor wenigen Wochen eine Verlängerung über das bisher geplante Jahr 2024 hinaus an die Aufhebung von US-Sanktionen gegen russische Raumfahrtunternehmen. Davon ist zumindest kurz vor dem Start des Labor-Moduls keine Rede mehr gewesen.

Stattdessen erinnert Russland nun an glanzvolle Zeiten, etwa als Juri Gagarin 1961 als erster Mensch ins All geflogen war. Die Proton-Rakete trägt die Aufschrift "60 Jahre Erster Flug des Menschen in den Kosmos 1961-2021". Sie gilt mittlerweile aber als Auslaufmodell und soll mittelfristig von der Angara abgelöst werden. (red, APA, 21.7.2021)