In Tunesien schlägt Covid derzeit besonders schlimm zu. Das Gesundheitssystem ist völlig überfordert.

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Die Bilder vom weinend zusammenbrechenden Krankenhausdirektor im nordtunesischen Mateur gingen vor wenigen Tagen durch die sozialen Medien: Die erwartete Lieferung des Sauerstoffs per Lastwagen, den seine Patienten so dringend brauchten, verspätete sich. Tunesien, das die Covid-Krise im Vorjahr glimpflich überstanden hatte, weist nun laut WHO die im Verhältnis zur Bevölkerung höchsten Infektions- und Sterberaten Afrikas und der arabischen Welt auf. Es wüten gleichzeitig die Alpha- und die Delta-Variante.

Immerhin zog zuletzt die Hilfe von außen deutlich an, vor allem die arabischen Staaten engagieren sich und stellen auch Impfdosen zur Verfügung. Aber für die jetzt Infizierten und Erkrankten – bis zu 10.000 täglich mehr, bei einer Bevölkerung von zwölf Millionen – kommt das zu spät. Mitte Juli waren nur etwa sechs Prozent der Bevölkerung doppelt immunisiert. Obwohl fast 40 Prozent der Einwohner und Einwohnerinnen jünger als 24 Jahre sind, hat Tunesien doch im Vergleich mit anderen afrikanischen Ländern einen relativ hohen Anteil an älteren Menschen, die von dieser Welle besonders betroffen sind.

Am Dienstag entließ Premier Hichem Mechichi Gesundheitsminister Faouzi Mehdi: Er hatte die Impfstationen einfach für alle Menschen über 18 öffnen lassen, worauf es zu chaotischen Szenen gekommen war. Am Mittwoch wurden wieder nur Menschen, die älter als vierzig Jahre sind, geimpft.

Himmelfahrtskommando

Das Gesundheitsministerium wird interimistisch von Sozialminister Mohamed Trabelsi übernommen, der sich dagegen gesträubt haben soll. Es ist ein Himmelfahrtskommando. Schon Anfang Juli bezeichnete eine Sprecherin das tunesische Gesundheitssystem als "kollabiert": "Das Boot sinkt", sagte Nisaf Ben Alaya. Es gibt Berichte von zu 100 Prozent überbelegten Krankenhäusern, aus denen die Toten nicht mehr weggeschafft werden können.

Die Menschen machen die zerstrittene politische Führung des Landes verantwortlich: Der Machtkampf zwischen dem 2019 gewählten Präsidenten Kais Saied auf der einen und Premier Mechichi sowie Parlamentspräsident Rached al-Ghannouchi von der Ennahda-Partei auf der anderen Seite lähmt das Land. Es geht um einen Verfassungsstreit: Der Präsident hat bereits in seinem Wahlkampf klargemacht, dass er nichts vom parlamentarischen System hält. Zuletzt flackerten sogar Putschgerüchte auf.

Tunesien ist das einzige Land, dessen Umsturz 2011 zu einem demokratischen Übergang führte, der jedoch sehr fragil ist. Nun wächst die Wut der Menschen auf die reformresistente Politik. Als Folge des Staatsversagens bilden sich aber auch private Netzwerke, NGOs tun sich national zusammen, um Sauerstoff und andere medizinische Hilfsmittel zu beschaffen und im ganzen Land zu verteilen. Tunesien hat eine sehr aktive Zivilgesellschaft. Auch die tunesische Diaspora wird involviert, um sich auf dem internationalen Markt zu versorgen.

Impfdiplomatie

In der islamischen Welt wird diese Woche das Opferfest gefeiert: Im Vorfeld stieg die Spendenbereitschaft der regionalen arabischen Nachbarn Tunesiens – von Marokko bis Ägypten –, aber auch reicher Golfstaaten. Allen voran hat Saudi-Arabien eine Million Impfdosen zugesagt, die Vereinigten Arabischen Emirate haben bereits eine halbe Million geliefert. Auch westliche Staaten – wie die USA, aber auch Frankreich – beteiligen sich durch den WHO-Mechanismus Covax. Aber in Tunesien wird ihnen, wie auch der EU, vorgeworfen, zu spät reagiert zu haben.

Die arabische Impfdiplomatie hat durchaus auch politische Untertöne. Das Ansehen Saudi-Arabiens in Tunesien ist traditionell angekratzt: Von Teilen des säkularen Sektors wird das Königreich noch immer für den Aufschwung des radikalen Islamismus in den vergangenen Jahrzehnten verantwortlich gemacht, obwohl die saudische Politik zuletzt die Wende zu einem gemäßigten Islam eingeschlagen hat.

Es geht aber nicht einfach nur um saudische Imagekorrektur. In Tunesien ist Ennahda die stärkste Partei im Parlament – eine Muslimbruderpartei, die traditionell beste Verbindungen zu der Türkei und zu Katar hat. Zwar ist der große Konflikt zwischen Saudi-Arabien, den VAE und Ägypten auf der einen und Katar und der Türkei auf der anderen Seite erst einmal offiziell beigelegt: Die Konkurrenz bleibt jedoch bestehen und reflektiert sich auch im Kampf um die Sympathie der Tunesier und Tunesierinnen. Typischerweise verkündete Präsident Saied die Spenden aus Riad und Abu Dhabi – und Mechichi und Ghannouchi kommunizieren diesbezüglich mit Katar und der Türkei. (Gudrun Harrer, 22.7.2021)