Es ist ein bemerkenswertes Bild, das sich dem Flaneuer an diesem 36 Grad heißen Sommertag vor dem Palais Augarten in der Wiener Leopoldstadt bietet: Ein Sechsjähriger schaut von oben in eine halb gefüllte Regentonne und verschwindet ganz darin; ein Achtjähriger steht mit säuerlich verzerrtem Gesicht vor dem Domizil der Wiener Sängerknaben und kaut an einem rot-grünen Blatt. Und der Zehnjährige, der gerade erst ein blühendes Sträußchen überreicht bekommen hat, beißt den Blumen nun nacheinander die Köpfe ab. Sehen wir hier eine Art Irrgarten des berühmtesten Knabenchores der Welt, in dem drei Buben mit seltsamen Methoden versuchen, die Nervosität vor dem nächsten Auftritt zu bekämpfen? Nichts dergleichen.

Ist das Sauerampfer vor dem Palais Augarten? Nein, die Färbung der Blätter kommt hin, aber es ist Mangold.
Foto: www.cityfarm.wien

Wir befinden auf dem Gelände der City Farm, die vor drei Jahren in die unmittelbare Nachbarschaft zu den Sängerknaben in den Augarten gezogen ist. Ein kleines Team rund um den innovativen Gemüsegärtner Wolfgang Palme ist damals aus der Kammermeierei Schönbrunn, wo Kaiserin Sisi ihre Kühe weiden ließ und kuhwarme Milch zum Frühstück genoss, in die Leopoldstadt übersiedelt. Schon in Schönbrunn bot der Abteilungsleiter für Gemüsebau an der Höheren Bundeslehr- und Versuchsanstalt Kindern und Erwachsenen Platz zur eigenen gärtnerischen Betätigung. In diesen sechs Jahren entwickelte sich die City Farm zum größten Kompetenzzentrum für Gartenpädagogik in Österreich. Nachdem die Schule Eigenbedarf an den Flächen in Hietzing anmeldet hatte, wurde das mehr als 4.000 Quadratmeter große Areal im Augarten als Ersatz gefunden.

Wolfgang Palme mit Schülern im Grünen Klassenzimmer.
Foto: www.cityfarm.wien

Die drei Buben aus der Nachbarschaft des 2. und 20. Bezirks besuchen in diesem Sommer die City Farm im Rahmen der Gartenspaßwoche. Das ist ein fünftägiges Ferienprogramm, bei dem Sechs- bis Zwölfjährige unter der Anleitung von Pädagoginnen und Coaches spielerisch Gartenarbeit verrichten. Konkret bedeutet das: Herumtollen auf blühenden Wiesen, erste eigene Gehversuchen beim Gärtnern unternehmen, also Kompost umgraben, säen, ernten, Obst und Gemüse naschen sowie frische Zutaten selber kochen. Vor allem aber sollen die Kinder, die oft kaum einen realen Bezug herstellen können zu ihrem Essen, sich einmal durch diesen Versuchsgarten kosten. Der Achtjährige etwa, der das Gesicht verzieht, hat gerade in einen Sauerampfer gebissen. Es sei leider nichts Ungewöhnliches für Kinder aus der Stadt, dass ihnen solche Geschmäcker völlig fremd sind, meint Wolfgang Palme. Manche kämen hierher und seien überrascht, dass Karotten unterirdisch wachsen oder grünes Gemüse nicht zwangsläufig unreif ist.

Karotten wachsen unterirdisch – auch die seltene Sorte Purple Haze.
Foto: www.cityfarm.wien

Das Wissen über Lebensmittel und eine gesunde Ernährung zählt zum Grundstock, den man seinen Kindern mitgeben kann, meint die Ernährungsmedizinerin Angelika Kirchmaier. Convenience-Produkte, Fastfood und Lieferservice hätten in der Corona-Krise noch einmal stark zugenommen. Ihrer Meinung nach komme der Schule eine Schlüsselfunktion zu, um Kindern eine gesunde, nachhaltige Ernährungsweise beizubringen. "Wir essen im Schnitt dreimal täglich, in rund 80 Jahren sind das 90.000 Mahlzeiten. Da ist es wichtig, so früh wie möglich mit Ernährungsbildung zu beginnen", sagt Kirchmaier. Die Ernährungswissenschafterin Claudia Angele von der Universität Wien geht mit ihrer Einschätzung sogar noch einen Schritt weiter: Ernährungsbildung sei eine existenzielle Kompetenz für eine verantwortungsbewusste Alltagsbewältigung. Damit meint sie den Erwerb der Fähigkeit, die eigene Ernährung unter den gesellschaftlichen Bedingungen politisch mündig und sozial verantwortlich gestalten zu können.

Ein Teil des Gemüsegartens der City Farm Augarten.
Foto: www.cityfarm.wien

Kirchmaier und Angele setzen sich ebenso wie die Arbeitsgemeinschaft Österreichische Bäuerinnen dafür ein, dass Ernährungs- und Konsumbildung fixer pädagogischer Lehrstoff in den Elementar- und Sekundarstufen aller Schultypen wird. Bis es so weit ist, übernehmen aber eben oft noch Einrichtungen wie die City Farm diese Aufgabe. Die hat genau genommen schon 2011 mit einem Projekt des Landwirtschaftsministeriums ihre Arbeit begonnen, bei dem damals der "Junior City Farmer" gesucht wurde. 20 Schulklassen nahmen an diesem Wettbewerb teil, bei dem die Kinder ein Gemüse-Balkonkistchen selbstständig betreuen sollten, von der Pflege bis zur Ernte. Ungefähr um dieselbe Zeit hat Wolfgang Palme die Gartenpädagogin Lisa Reck-Burneo kennengelernt. Sie arbeitete in den USA in Brooklyn an einem Gartenprojekt für Kinder mit, das seit 1914 existiert. Diese "Children's Gardens" sind überall in den USA üblich, doch in Europa war diese Form der Gartenpädagogik, wie sie eben später die Wiener City Farm aufgriff, eine Pionierleistung.

Einige der Blüten in der City Farm sind essbar.
Foto: www.cityfarm.wien

Palme verwehrt sich dagegen, Garten und Balkon als private Rückzugsorte für ein weltflüchtendes Cocooning zu sehen. Gerade mit Corona habe diese Einstellung unter Gartlern wieder zugenommen. Aber der innovative Gemüsebauer und Autor zahlreicher Fachbücher möchte Gärten lieber als Projektionsflächen und Experimentierfelder für einen bewussten Lebensstil verstanden wissen. So bieten die innerstädtischen Freiflächen alle Voraussetzungen für einen urbanen Lerngarten, bewirtschaftet nach den Prinzipien des biologischen Landbaus. Auf den Beeten für Kinder wachsen im Augarten unzählige Arten und Sorten von Gemüse, die es in keinem Supermarkt zu kaufen gibt. Auf Metallhochbeeten gedeiht im Sommer die sortenreichste Paradeiserpflanzensammlung Wiens, und im Winter findet man dort den einzigen Frischgemüse-Schaugarten der Stadt.

Im Augarten findet sich auch eine enorm reiche Sammlung an Paradeisersorten.
Foto: www.cityfarm.wien

Die Erfahrung habe gezeigt, dass man aus jungen Grünzeugverweigerern durch die Arbeit der eigenen Hände mitunter Gemüsetiger machen kann. Eltern oder Lehrer sind oft überrascht, dass ein Kind eine besonders unbeliebte Gemüsesorte zumindest einmal gekostet hat. Freilich schmeckt nicht jedem Kind alles, aber wer Gemüse selbst erntet, hat einen anderen Zugang. Schulkinder haben in der City Farm auch die Möglichkeit, sich dort für ein ganzes Jahr einzuschreiben. Im September startet wieder eine neue Junior-City -Farmer-Gruppe, um einmal im Monat zu pflanzen, zu pflegen und zu ernten. So lernt man schon in jungen Jahren einen Garten zu allen Jahreszeiten kennen, und quasi en passant wird gesunde, saisonale Ernährung vermittelt.

Ein Stück Selbstbewusstsein

Dass Kinder zwischendurch in einer der Regentonnen der City Farm abtauchen, kommt schon mal vor. Das hat aber nur mit dem simplen Wunsch nach Abkühlung zu tun und nicht mit dem Bedürfnis, sich zu verstecken. Denn so wie die Wissenschafterin Claudia Angele überzeugt ist, dass Ernährungsbildung bei der Bewältigung des Alltags hilft, glaubt Wolfgang Palme an die aufputschende Wirkung des Gartelns auf das Selbstbewusstsein. Er habe oft genug beobachtet, dass Kinder ein Stückchen von sich selbst im Garten entdecken. Vor allem Buben, die als Außenseiter gelten oder in der Schule oft nicht so erfolgreich sind, wachsen beim Garteln manchmal über sich hinaus. Die körperliche Betätigung und die Entdeckung einer praktischen Begabung tun ihnen gut. Um den gewünschten Erfolg zu erzielen, müsse man allerdings rechtzeitig damit beginnen, die Kinder in den Garten zu holen. Nicht erst mit Jugendlichen, sondern am besten – im Kindergartenalter. Nomen ist da wirklich omen. (Sascha Aumüller, 11.8.2021)