Den Geschäften geht aufgrund des Personalmangels die Ware aus.

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Keine Erdbeeren im Supermarkt, kein Termin beim Hausarzt, keine Spurensicherung bei Einbruchsopfern – Englands neue Corona-Freiheit stellt das Land zunehmend vor schwere logistische Probleme. Die unaufhörlich steigenden Neuinfektionen führen zu Millionen von Aufforderungen an Kontaktpersonen, für zehn Tage in häusliche Isolation zu verschwinden. Das betrifft derzeit nicht nur Premier Boris Johnson und Labour-Oppositionsführer Keir Starmer, sondern viele Angestellte im öffentlichen Dienst und in Supermärkten. Schon schlagen große Einzelhändler Alarm: Binnen 48 Stunden könnte es zu ernsten Versorgungsschwierigkeiten, vor allem bei frischem Obst und Gemüse, kommen.

In Anlehnung an "Pandemie" ist in den Medien von einer "Pingdemie" die Rede: Das Wort spielt auf das Warngeräusch der Covid-App an, mit denen Nutzern der Nahkontakt zu einem positiv Getesteten mitgeteilt wird. Sie werden automatisch dazu aufgefordert, zehn Tage lang in häuslicher Quarantäne zu verbringen. Bis Mitte vergangener Woche lag die Ping-Rate bei rund 88.000 täglich. Weil die konservative Regierung am Montag im größten Landesteil England sämtliche gesetzlichen Covid-Einschränkungen abschaffte, rechnen Experten mit einem sprunghaften Anstieg: In den nächsten drei Wochen sollen bis zu vier Millionen Menschen betroffen sein.

Inzidenz von 472

Die "Pingdemie" ist eine logische Folge der seit zwei Monaten scheinbar unaufhaltsam steigenden Infektionsraten. Der Statistik des Gesundheitsministeriums zufolge lag die Inzidenz pro 100.000 Einwohner am Mittwoch bei 472, ein Anstieg binnen Wochenfrist um fast 36 Prozent. Klar steigend sind auch die Zahlen für Covid-Patienten, die einer Behandlung im Spital bedürfen, sowie die gemeldeten Toten, zuletzt täglich 52.

In der Hauptstadt London schienen die Filialen großer Unternehmen wie Tesco, Sainsbury’s und Waitrose bis Donnerstag noch gut gefüllt zu sein. Hingegen zeigten die britischen Medien Fotos von Supermärkten mit leergefegten Regalen in vielen Städten im Norden Englands und den Midlands. Andrew Opie vom Branchenverband BRC beklagt "zunehmenden Druck" auf die Mitgliedsfirmen: "Die Regierung muss rasch handeln."

Geschlossene Tankstellen

In Not sind auch Eisenbahn und Müllabfuhr; den Krankenhäusern fehlen Fachleute, ebenso sieht es bei der Kriminalpolizei aus. Der Mineralölkonzern BP musste mangels Personal erste Tankstellen schließen, Autobauer Vauxhall strich in der Lastwagenfabrik Luton eine von drei Schichten. In Liverpool und Leeds, Birmingham und Bristol blieb der Müll liegen.

Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng kündigte an, dass die Regierung noch am Donnerstag eine Liste systemrelevanter Berufe veröffentlichen werde. Die betreffenden Firmen und Behörden könnten dann für individuell benannte Angestellte eine Verkürzung der häuslichen Isolation bis zu einem negativen PCR-Test beantragen. Diese sind im Nationalen Gesundheitssystem NHS kostenlos, Ergebnisse gibt es mittlerweile oft binnen zehn Stunden. Einstweilen aber müssten sich alle Benachrichtigten auch wirklich isolieren, mahnte Kwarteng und beteuerte: "Zur Panik besteht kein Anlass."

Test für Quarantänelockerungen

Der frühere Gesundheitsminister Jeremy Hunt hingegen argumentierte im Unterhaus für eine Lockerung der Quarantänevorschrift. All jene mit zweifacher Impfung gegen Sars-CoV-2 sollten ab sofort trotz Kontakts mit einem Infizierten weiterarbeiten dürfen, solange sie täglich einen negativen Antigentest vorweisen können. Diese Möglichkeit wird derzeit einem Testverfahren mit Freiwilligen unterzogen; die Regierung hat mitgeteilt, an der bisherigen Regelung werde sich frühestens Mitte August etwas ändern.

Zu Teilnehmern des Testverfahrens erklärten sich am Sonntag früh kurzerhand auch Premier Johnson und Finanzminister Rishi Sunak. Beiden hatte die Covid-App die häusliche Quarantäne verordnet, nachdem sie am Freitag mit Gesundheitsminister Sajid Javid über die Einzelheiten der neuen Pflegeversicherung gestritten hatten und Javid später positiv auf Sars-CoV-2 getestet worden war. Dass das Regierungsduo sich der unangenehmen Verpflichtung entziehen wollte, löste bei der Opposition sowie Angehörigen von Corona-Toten aber eine so heftige Empörungswelle aus, dass Johnson und Sunak binnen knapp drei Stunden zurückruderten.

Labour-Chef Starmer hingegen zog sich am Mittwoch bereits zum dritten Mal ohne zu zögern in die Isolation zurück. Kurz vor Schuljahresende hatte sich der zwölfjährige Sohn des Politikers eine Covid-Infektion eingefangen. (Sebastian Borger aus London, 23.7.2021)