Viele Bauern in Frankreich können kaum von der Landwirtschaft leben.

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Die Windräder stehen still, nur ein paar Raben stochern in den topfebenen Äckern. Niemand da, der Auskunft geben könnte, wo Augustins Hof lag. Oder liegt, um genau zu sein: Den Hof gibt es noch, Augustin nicht mehr. Der Schweinezüchter aus der französischen Region Picardie, nördlich von Paris und unweit des Ärmelkanals, hat sich mit 31 Jahre das Leben genommen, an einem Sonntagabend gegen 23 Uhr. Seiner Frau Camille sagte er, er gehe noch kurz was bei der Mühle nachschauen.

So lapidar beschreibt es Camille in einem Buch namens "Tu m'as laissée en vie" – Du hast mich lebend zurückgelassen. Der nüchterne Bericht fand ab Erscheinen ein breites Publikum. Die Thematik ist sehr verbreitet, obwohl sie gerade in den am stärksten betroffenen Landstrichen am meisten verdrängt wird.

Nordfrankreich stark betroffen

In Frankreich nahmen sich 2015, dem Jahr der letzten detaillierten Erhebung, 650 Bauern das Leben. Im Agrarbereich liegt die Suizidrate um 50 Prozent höher als in der übrigen Bevölkerung (34,2 Prozent gegen 23,4 Prozent auf 100.000 Einwohner). Noch höher liegt sie bei den ärmeren Bauern, die die Mindestkrankenversicherung beziehen. Am stärksten betroffen sind Nordfrankreich und die Picardie, das Jura und das Burgund, die Bretagne und die Auvergne. 80 Prozent sind Männer, mehrheitlich Milchbauern und Rinderzüchter.

Camille Beaurain mag den Ausdruck Suizid nicht. "Mein Mann hat sich nicht getötet, er wurde umgebracht!", meint die Frau mit der glasklaren Stimme. Sie meint das natürlich im übertragenen Sinn. Aber trotzdem. Der heute 27-Jährigen ist keinerlei Wut anzuhören, sie erzählt so sachlich und genau wie in ihrem Buch, voller zurückgehaltener Trauer.

Camille bricht ein Tabu und spricht offen über die Tragödie auf ihrem Bauernhof.
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Camille war gerade 15, als sie ihren nachmaligen, um sieben Jahre älteren Mann per Internet kennenlernte. Als sie sich trafen, war es Liebe auf den ersten Blick. Obschon sich die junge Frau, als sie das erste Mal den Schweinestall betrat, wegen der Gerüche übergeben musste. Bald zog sie auf das Gut in der Picardie-Gegend Vimeu. Sie heirateten, verzichteten aber wegen der Arbeit auf eine richtige Hochzeitsreise. Normalerweise schufteten sie sechseinhalb Tage die Woche. "Nur am Sonntagnachmittag ruhten wir uns aus", erzählt die Nordfranzösin. "Manchmal fuhren wir ans Meer, aber manchmal waren wir so müde, dass wir nur noch auf dem Sofa fernsehen wollten. Aber wir waren glücklich."

Zu kleiner Hof

Natürlich stellten sich Probleme ein. Der Kinderwunsch ging nicht in Erfüllung. Und der Hof war eigentlich zu klein, die Schweine waren zu wenig zahlreich, um ein Auskommen für zwei zu finden. Aber Augustin dachte nicht daran, das Gut seiner Familie zu verlassen. Auch sein Vater hatte dort Schweine gezüchtet, bevor er unter Umständen starb, über die nie jemand sprach.

Dann verlangte Augustins Großmutter von ihrem Enkel sogar eine Pacht für den Boden. Das sei in gewissen Bauernfamilien üblich, wundert sich Camille. Tiere und Geräte, die nicht in die Erbschaft fielen, musste ihr Mann für 190.000 Euro übernehmen. Der Zins für den Kredit betrug sechs Prozent.

Augustins Schweinewirtschaft reichte nicht, um finanziell über die Runden zu kommen.
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Harte Arbeit

Augustin und Camille malochten von früh bis spät, aber bald waren sie auch bei der Genossenschaft verschuldet. "Und die heißt nur 'Genossenschaft'", erinnert sich die Witwe Beaurain. "In Wahrheit treibt sie rücksichtlos jeden Centime ein." 24.016,88 Euro, um genau zu sein. Die erste per Post zugeschickte Rechnung über diesen Betrag fing Camille ab. Die zweite – mit einer Zahlfrist von acht Tagen – nahm ihr Mann entgegen.

Camille wandte sich an den Notar. Der drohte aber nur mit der Beschlagnahmung des Gutes. In ihrer Verzweiflung rief sie den lokalen Abgeordneten der Nationalversammlung in Paris an. Der versprach zu intervenieren, tat es auch. Zu spät: Augustin erhängte sich am Tag, bevor die schriftliche Zusage des Abgeordneten für einen neuen Kredit zu besseren Konditionen eintraf.

Nein, wütend sei sie nicht, beteuert Camille. Trotz der Großmutter und der Genossenschaft, trotz der Banker und Agrarbürokraten. "Die Überschuldung ist oft nur der Auslöser. Sie wird umso schmerzlicher erlebt, als sich viele Landwirte abrackern, bis sie in einen Burnout verfallen. Dann schämen sie sich, dass sie es nicht mehr schaffen." Auch Augustin habe nie über seine Probleme sprechen wollen – so etwas habe man in seiner Familie nie gemacht.

Hof verlassen

Camille hat den Hof von Augustins habgieriger Familie verlassen. "Weinen musste ich nur, als sie die Schweine holen kamen", meint sie. "Die waren mir ans Herz gewachsen."

Heute baut die Witwe, die aus einer urbanen Familie stammt, in einem kleinen Bauerngut im Departement Somme mithilfe eines Pächters Getreide an. Sie liebe den Beruf der Landwirtin und wolle ihn schon zum Gedenken an ihren Mann weiterführen, sagt sie.

Vor allem aber hat sie aufgepasst: Auf ihrem 50-Hektar-Betrieb aus Weizen, Raps und Wintergerste lasten keine Schulden. Doch allein von der Getreideproduktion könnte sie nicht leben, trotz EU- Agrarsubventionen: "Obwohl ich die Ernte vollumfänglich verkaufe, bleibt mir am Schluss gerade mal ein Monatseinkommen von 300 Euro." Deshalb muss Camille in der 50 Kilometer entfernten Stadt Amiens Teilzeit als Hebamme arbeiten.

Notleidende Landwirte

In ihrer mageren Freizeit hilft sie im Verein Solidarité paysans notleidenden Landwirten. "Ich besuche sie, höre ihren Geschichten zu, die der meinen so sehr gleichen."

Mit ihrer Erfahrung kann sie Ratschläge geben, damit nicht noch mehr Verzweiflungstaten begangen werden. Auch die französische Agrarkrankenkasse MSA hat eine Telefonberatung eingerichtet, um der steigenden Zahl von Suiziden vorzubeugen. Dieser Dienst namens Agri-Ecoute (Agrar-Zuhören) wird jeden Monat von 200 Landwirten beansprucht. 60 Prozent rufen wegen persönlicher Probleme an, 40 Prozent wegen beruflich-finanzieller Schwierigkeiten.

"Es ist unsere Pflicht, diesen oft völlig isolierten Bauern zu helfen", sagt Camille sehr bestimmt, und nun mischt sich doch etwas wie Empörung in ihre Stimme: "Wir können doch nicht zulassen, dass unsere Welt gerade die, die unsere Lebensgrundlage schaffen, selber aus dem Leben schafft." (Stefan Brändle aus Paris, 23.7.2021)