Auch im Pandemiejahr 2020 hat die Spieleschmiede Niantic mit "Pokémon Go" gutes Geld verdient – weil man das Spielkonzept an die neue Normalität angepasst hat.

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Schon wieder hat sich eine Menschentraube vor unserem Haus gebildet. Erwachsene Leute, ausgestattet mit Akkupacks, wischen auf ihren Handybildschirmen herum. Meine ältere Nachbarin ist irritiert, ich hingegen erkenne sofort, worum es geht. "Ach, ist wieder ein Raid?", frage ich, während ich die Tür aufsperre: "Gebt mir ein paar Minuten, ich bin gleich dabei." Diese Situation hat sich nicht gestern oder heute zugetragen – sondern mehrmals im Lauf der vergangenen Jahre, bevor eine Pandemie uns allesamt gezwungen hat, zu Hause zu bleiben.

Eine typische Spielszene aus "Pokémon Go".
Foto: Niantic/The Pokemon Company

Fünf Jahre ist es nun her, dass die Spieleschmiede Niantic das Handygame Pokémon Go auch nach Österreich brachte – und obendrein weltweit für Chaos sorgte. In Scharen zogen Nerds mit Smartphones durch die Straßen, um die japanischen Taschenmonster einzufangen. Dazu mussten sie so lange in der realen Welt spazieren, bis Pokémons auf ihren Bildschirmen erschienen sind, und diese mit einem Ball bewerfen.

Besonders motivierte Spieler betraten dabei Privatgrundstücke oder wurden in Verkehrsunfälle verwickelt. Das sorgte natürlich für Kritik. Die Spieler ihrerseits bemängelten beim Start teilweise überlastete Server, was das Spielen so gut wie unmöglich machte. Und die Menschenmassen bildeten sich schließlich an den "Arenen", in denen Kämpfe zwischen Pokémons ausgefochten wurden.

Ich lebe in einer solchen Arena, deshalb ging es vor unserer Haustür jeden Sommer heiß her. Zuletzt war es jedoch verdächtig still. Was ist passiert?

Grüße aus der Ferne

Um dies herauszufinden, frage ich auf Facebook ins Blaue hinein, wer in meinem Umfeld das Spiel noch spielt. Eine Bekannte antwortet, dass sie Teil einer ganzen Gruppe von Spielern ist. Sie nimmt mich in ihre Telegram-Gruppe auf und lädt mich zu einem abendlichen Treffen in ihrem Stammbeisl ein. Dort sitzen die Freunde, plaudern, trinken Bier, fangen mit ihren Handys Pokémon und bevölkern die nahegelegene Arena.

Wie bitte? Im Sitzen? Ja. Denn während der Pandemie hat Niantic das Spielkonzept überarbeitet. So können Spielende nun ab einem bestimmten Level auch über größere Distanzen gegeneinander kämpfen. Der Radius zum Interagieren in Arenen wurde vergrößert, damit die Spielenden Abstand zueinander halten können.

Und das Kämpfen gegen größere Monster in Arenen – die eingangs erwähnten Raids – ist mittels "Fern-Raid-Pass" nun auch möglich, ohne dass man direkt vor Ort ist. So kann ein Spieler in Wien-Penzing sitzen, der zweite in Wien-Favoriten und der dritte gar auf Malta. Trotz physischer Distanz spielen sie gemeinsam. Dadurch entsteht eine globale Gemeinschaft, die während der Pandemie noch weiter zusammengewachsen ist und sich digital koordiniert: Meine Bekannte zeigt mir Apps von Drittanbietern, in denen sie fremde Menschen aus aller Welt zu Raids einlädt.

Meine Bekannte in der fiktiven Pokémon-Welt: Im echten Leben sieht sie ganz anders aus.
Foto: Niantic/The Pokemon Company

Die Raid-Pässe erhalten die Spieler manchmal gratis als Belohnung für Aufgaben innerhalb des Spiels, sie können sie aber auch kaufen. Das ist Teil der Monetarisierungsstrategie, und sie zahlt sich aus: Laut Daten des Marktforschungsunternehmens Sensor Tower Analytics hat Pokémon Go seit seinem Start vor fünf Jahren fünf Milliarden Dollar Umsatz generiert. Davon entfallen allein 1,3 Milliarden Dollar auf das Pandemiejahr 2020 – um 400 Millionen Dollar mehr als im Vorjahr.

"Niantic hat die Corona-Krise gut genutzt, um an der Spielmechanik zu arbeiten", sagt dazu auch der Medienwissenschafter Alexander Pfeiffer, der mit seinen Freunden im Pokémon-Club Grellgasse unter dem Nutzernamen "Bergerilo" unterwegs ist. Entgegen der weitläufigen Meinung hält er es auch nicht für verwerflich, in derartigen Spielen zu zahlen: "Denn immerhin brauchen die Entwickler auch ein Budget, um neue Inhalte zu entwickeln."

Alexander Pfeiffer in der virtuellen Welt: Auch Wissenschafter spielen gerne.
Foto:Niantic/The Pokemon Company

Als Richtwert gibt er an, dass rund drei bis vier Prozent der Spielerinnen und Spieler zu viel Geld ausgeben – diese sollten auch um professionelle Hilfe bitten, um sich nicht aufgrund des Spiels zu verschulden. Der Großteil der Spielerinnen und Spieler gibt jedoch sehr wenig Geld aus, meistens bis zu einem selbstgesteckten Limit, etwa 60 Euro pro Jahr.

1000 Euro für einen Account

Bezahlt wird aber nicht nur im Spiel selbst, wie ich in meiner Spielgruppe erfahre. Denn hier gibt es Neu- ebenso wie Wiedereinsteiger, manche von ihnen haben mehrere Accounts – und manche haben sich sogar welche gekauft. Denn auf der heimischen Plattform Willhaben werden Accounts, je nach Level, um mehrere Hundert Euro verkauft. Einer dieser Verkäufer ist Dominik W., der nicht mit seinem ganzen Namen genannt werden will. Er spielt seit Beginn, hat alle bisher erhältlichen Pokémon eingesammelt und bietet seinen Account nun für 1000 Euro zum Verkauf an. Warum?

"Weil ich merke, dass immer mehr Zeit dafür draufgeht und das Spiel bei mir einen inneren Stress verursacht", sagt er. Nun möchte er gänzlich aufhören, und der Verkauf des Accounts ist wohl vergleichbar mit dem symbolischen Tschickpackerl-Wegwerfen eines Rauchers. Dass er dabei im besten Fall noch Geld verdient, ist ein angenehmer Nebeneffekt.

Ich selbst denke hingegen nicht ans Aufhören – ganz im Gegenteil: Ich habe durch das Spiel nette Menschen kennengelernt, mit denen ich vergangenes Wochenende auf Pokémon-Jagd gehen konnte. Zusätzlich tausche ich mich mit ihnen über aktuelle Entwicklungen aus. So wurde erst vorgestern ein Konkurrenzprodukt zu Pokémon Go namens The Witcher: Monster Slayer veröffentlicht, bei dem man ebenfalls in einer Augmented-Reality-Welt Aufgaben löst und Monster besiegt. Erneut ziehe ich also durch die Straßen und lebe in meiner virtuellen Parallelwelt. Und einer meiner neuen Freunde beschwert sich, dass das Spiel bei ihm ständig abstürzt. So wie früher bei Pokémon Go. Aber das nimmt man ja gerne in Kauf, um den eigenen ewigen Spieltrieb zu befriedigen.

Auch im Pandemiejahr 2020 hat die Spieleschmiede Niantic mit Pokémon Go gutes Geld verdient – weil man das Spielkonzept an die neue Normalität angepasst hat. (Stefan Mey, 25.7.2021)