"Ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass unser Weg zurück in die Steinzeit sein sollte." Bundeskanzler Sebastian Kurz will Klimaschutz ohne Verzicht

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Eigentlich hätte es ein ganz entspannter Kanzlerbesuch werden sollen: bestes Sommerwetter in Vorarlberg, Betriebsbesuche, die Festspieleröffnung, eine Opernpremiere, der Bodensee – Material für viele schöne Bilder.

Am Dienstag trifft Sebastian Kurz im Ländle ein, eigentlich alles bestens, aber da ist sein Parteifreund und Gastgeber, Landeshauptmann Markus Wallner (ÖVP), schon ziemlich unlocker. Er habe Kurz, so erzählt man es sich in Vorarlberg, gleich einmal "ordentlich" – also für Wallners Verhältnisse – die Leviten gelesen.

Für Wallner geht es um eine Straße, die ihm wichtig ist, die derzeit noch gar nicht gebaut wird, deren Nutzen jetzt aber noch einmal geprüft wird. S18 heißt sie, die geplante Schnellstraße, die die schweizerische Autobahn mit der österreichischen verbinden soll und dabei auch durch Naturschutzzonen führen würde.

Fertig wäre die Straße in frühestens zwanzig Jahren. Für Kurz geht es bei der S18 nun aber plötzlich um nicht weniger als sein Standing in den schwarzen Ländern und die Stabilität seiner Koalition – der Fehler einer Bundesrätin hatte eine politische Kettenreaktion in Gang gesetzt.

Gewessler gilt als widerständig

Aber von vorn: Begonnen hat alles vor nicht ganz einem Monat. Ende Juni berichten mehrere Medien über einen Stopp von Bauprojekten – darunter etwa den des Lobautunnels, der durch den Untergrund eines Wiener Naturschutzgebietes gebohrt werden soll. Der Bau wird von der SPÖ vorangetrieben, auch die ÖVP ist dafür, den Grünen war er hingegen schon immer ein Dorn im Auge.

Die grüne Umweltministerin Leonore Gewessler bestätigt die Berichte: Ja, sie wolle das gesamte Asfinag-Bauprogramm evaluieren. Bis Herbst sollen sämtliche Straßenprojekte in Österreich einem Klimacheck unterzogen werden, dann sehe man weiter.

Die SPÖ Wien ist empört, auch die Volkspartei regt sich auf. Im Umweltressort von Gewessler sitzt ein türkiser Staatssekretär, Magnus Brunner. In dessen Büro heißt es: Von Gewesslers Straßenbauevaluierung habe man aus den Medien erfahren. Abgesprochen war da nichts. Oder, wie es ein Türkiser formuliert: "Leonore Gewessler tut, was sie will, dafür ist sie inzwischen bekannt."

Bei den Grünen kann man diese Erzählart wiederum gar nicht verstehen. Schon vergangenes Jahr habe man in einer parlamentarischen Anfragebeantwortung auf die Evaluierung der Asfinag-Projekte hingewiesen. Und überhaupt: Im Regierungsprogramm seien Klimaziele vereinbart, die erreiche man nicht, ohne etwas zu tun.

Eskalation fast unbemerkt

"Wir können uns nicht bremsen lassen und immer auf jene hören, die automatisch Nein sagen." Ministerin Leonore Gewessler will spürbaren Klimaschutz
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Die große türkis-grüne Eskalation passiert – fast unbemerkt – aber vergangenen Donnerstag. Im Bundesrat kommt ein kurzfristig von der SPÖ eingebrachter Entschließungsantrag zur Abstimmung. Gewessler wird darin aufgefordert, die Bau-Evaluierungen wieder zu stoppen.

Der SPÖ geht es vor allem um den Lobautunnel, von der Evaluierung ist aber genauso die S18 betroffen. Der Antrag wird angenommen – mit einer Stimme aus der ÖVP: Die Vorarlberger Bundesrätin Christine Schwarz-Fuchs geht mit der Opposition mit. Sie begeht damit quasi einen Koalitionsbruch.

Die genauen Gründe sind etwas rätselhaft. Schwarz-Fuchs selbst äußert sich zu ihrem Stimmverhalten bis jetzt nicht. Die Unternehmerin und Vizepräsidentin der Industriellenvereinigung in Vorarlberg dürfte in der Sekunde der Abstimmung schlichtweg unterschätzt haben, was sie da gerade tut. Inhaltlich vertritt sie freilich einfach den Standpunkt der Ländle-Volkspartei, die ihre S18 will. Die Koalitionsräson vergisst sie dabei wohl.

Sündenfall

Für die Grünen ist der Sündenfall damit aber geschehen. "Oder können wir ab jetzt auch mit der Opposition mitstimmen, wenn wir es gerade für richtig halten?", sagt ein Grüner. Der kleine Koalitionspartner fordert von der Kanzlerpartei, Buße zu tun. Und diese folgt prompt: Diese Woche Montag wird im Nationalrat ein türkis-grüner Entschließungsantrag eingebracht.

Umweltministerin Gewessler wird darin aufgefordert, im Rahmen der Evaluierung aller Asfinag-Bauprojekte dringend ein Auge auf die seit Jahrzehnten geplante fragwürdige Schnellstraße im Rheintal zu werfen – die Vorarlberger S18. Sichtlich missmutig erheben sich Montagmittag auch die zwei Vorarlberger ÖVP-Abgeordneten zur Abstimmung. Es ist der Tag vor dem Vorarlberg-Besuch von Kurz.

Rückendeckung dürfte Landeshauptmann Wallner am Dienstag vom schwarzen steirischen Landeschef Hermann Schützenhöfer erhalten haben, der ebenfalls zur Eröffnung der Festspiele nach Bregenz reiste. Aus dem Büro Schützenhöfer heißt es zwar, der Landeshauptmann mische sich nicht in die Belange anderer Bundesländer ein. Dem Vernehmen nach soll er Wallner aber bestärkt haben, dass sich die Bundes-ÖVP nicht in dieser Form über die Interessen der Länder stellen könne.

Bei den Grünen will man schon länger beobachten, dass sich die schwarzen Länder Kurz nicht mehr wortlos fügen wollen seit den Ermittlungen gegen ihn und den türkisen Finanzminister Gernot Blümel und vor allem seit so manchen peinlichen Chats.

Ende der Koalition?

Dienstagabend gibt Kurz dem ORF Vorarlberg ein Interview, in dem er festhält, dass die ÖVP "an einem Strang" ziehe; er und Wallner seien selbstverständlich "einer Meinung", was die S18 betrifft. Am Tag darauf legt Kurz in den Vorarlberger Nachrichten nach: Es sei der falsche Weg zu glauben, dass man das Klima rette, indem man sich im Verzicht übe. "Der einzig richtige Zugang ist, auf Innovation und Technologie zu setzen", erklärt der Kanzler – und widerspricht damit allem, wofür die Grünen stehen, und konkret Gewessler, die den Verkehr sehr wohl als großen Hebel sieht.

Aber wie ist das alles einzuordnen? Ist das nun wirklich der Anfang vom Ende der Koalition? Will Kurz den Grünen ihren letzten Strohhalm ziehen, indem er entschlossene Klimaprojekte verunmöglicht?

Die Grünen geben sich überraschend entspannt. "Natürlich schießen wir öffentlich aus vollen Rohren zurück, aber eigentlich kommt uns das doch gelegen", sagt eine Grüne. Was sie meint: Über das Klima reden die Grünen gerne, auch wenn der Koalitionspartner ausschert. "Schlussendlich geht es für uns darum, was wir umsetzen, und nicht darum, wie antiquiert sich die ÖVP gibt." Vor allem aber: Alles ist besser, als wenn die ÖVP über das Thema Asyl redet, wo die Grünen gerade gar nichts zu gewinnen haben.

Klimakleinkrieg

Der koalitionäre Klimakleinkrieg geht jedenfalls weiter. Die schwarz geführte Wiener Wirtschaftskammer, die seit Jahren auf den Bau des Lobautunnels drängt, hat am Freitag ein Gutachten veröffentlicht. Darin wird angezweifelt, ob Gewessler die Prüfung der Straßenbauprojekte überhaupt einleiten durfte. Alles "selbstverständlich rechtskonform – das haben wir gemeinsam mit der Asfinag auch geprüft", kontert das Büro der Umweltministerin.

Die Zuschauer dürfen gespannt bleiben: Kommendes Jahr soll die ökosoziale Steuerreform in Kraft treten. Derzeit stecken Türkis und Grün inmitten zäher Verhandlungen. (Lara Hagen, Katharina Mittelstaedt, 24.7.2021)