Viktor Orbán brüskiert mit seiner Politik nicht nur die Europäische Union, er macht es auch auf Kosten einer Minderheit im Land. Dies sind auch Ablenkungsmanöver, sagt Luca Dudits von der LGBTQI-NGO Háttér Society im Gastkommentar.

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Protest gegen das umstrittene ungarische Anti-LGBTQI-Gesetz vor dem Parlament in Budapest.
Foto: Reuters / Marton Monus

Während Viktor Orbán versucht, sich in der internationalen Presse als Freiheitskämpfer darzustellen, hetzt er seit elf Jahren gegen Minderheiten, indem er sie als Staatsfeinde darstellt. Die Pflicht des Staates wäre es, sein Volk zu schützen. Die ungarische Regierung hingegen verwendet eine homophobe und transphobe Sprache, und es werden Gesetze erlassen, die Gewalt und Diskriminierung gegen LGBTQI-Menschen legitimieren.

Die Regierung und ihre parlamentarische Mehrheit untergraben systematisch die Freiheit und Gleichberechtigung von LGBTQI-Minderheiten, seit sie 2010 an die Macht kamen – und besonders seit dem Frühjahr 2019. Das war die Zeit, als die Angstmacherei gegen Migranten und Flüchtlinge nicht mehr funktionierte.

Immer Ablenkungsmanöver

Am Transgender Day of Visibility im Jahr 2020, jenem Tag, an dem Transgender-Personen ihre Identität feiern, wurde ein Gesetz vorgelegt, das später die rechtliche Geschlechtsanerkennung für trans- und intersexuelle Menschen verbot. Der Zeitpunkt für dieses Gesetz war kein Zufall: Es war der Höhepunkt der ersten Welle der Covid-19-Pandemie, als die Menschen Angst hatten und unzufrieden mit der Regierung waren. Nicht zufällig wurde in der zweiten Welle der Pandemie – täglich wurden hunderte Menschen in Krankenhäuser eingeliefert – eine Gesetzesänderung verabschiedet, die Trans-Menschen stigmatisiert und die Heteronormativität weiter im Gesetz zementiert, neben einem Gesetzesentwurf, der es unverheirateten Menschen erschwert, Kinder zu adoptieren. Die Familienministerin bestätigte, dass der Zweck dieses Gesetzes darin bestand, Adoptionen für gleichgeschlechtliche Paare zu verhindern.

Das Ziel war klar: Die Menschen sollten sich nicht auf die Unzulänglichkeiten des Krisenmanagements der Regierung konzentrieren, sondern auf die restriktiven Vorschläge, die aus einer Schreibtischschublade gezogen wurden.

Großer Aufschrei

Anfang Juni wurde in den Medien und in der Öffentlichkeit lebhaft über die Pläne der chinesischen Fudan-Universität in Budapest debattiert. Wir wachten mit der Nachricht auf, dass die Regierung eine neue Änderung des Kinderschutzgesetzes, über das sie im Parlament debattiert hatte, hinzugefügt hat: das Verbot von Bildungsprogrammen, Produkten und Werbung mit LGBTQI-Themen für Personen unter 18 Jahren. In Ungarn sind fast zwei Drittel der LGBTQI-Schüler wegen ihrer sexuellen Orientierung verbal belästigt worden, mehr als die Hälfte wegen ihrer sexuellen Orientierung. Die Regierung verbot genau jene Schulungen, die helfen könnten, die Vorurteile zu bekämpfen, die Mobbing und Missbrauch in der Schule schüren.

Trotz eines großen Aufschreis, mit tausenden Menschen vor dem Parlament bei der bis dato größten LGBTQI-Protestaktion im Lande, mehr als 130.000 Menschen, die eine Petition unterschrieben, und tausend Menschen, die persönliche Briefe an den Präsidenten schrieben, trat das Gesetz in Kraft.

Unzureichende Beratung

Wenige Tage vor dem Budapest Pride March (der an diesem Samstag stattfindet, Anm.) wurde eine sogenannte nationale Konsultation über das Gesetz angekündigt. Auf riesigen Plakatwänden im Land wird insinuiert, dass Eltern sich Sorgen machen sollten, dass ihr Kind durch "sexuelle Propaganda" gefährdet sein könnte.

Die Sexualerziehung in Ungarn wird von etwa 90 Prozent der Bevölkerung unterstützt. Die meisten Eltern vermeiden es, "das Gespräch" zu Hause zu führen. Und in den Schulen wird kaum etwas anderes als die Menstruation, die Bedeutung des Kondoms und der allgemeine Ratschlag, so lange wie möglich zölibatär zu bleiben, behandelt. Diese Programme sollten aber über Schönheitsnormen, Safer-Sex-Praktiken, Ratschläge zur Gestaltung gesunder intimer Beziehungen sowie LGBTQI-Themen aufklären.

Wir zahlen den Preis

Dann kam der Pegasus-Skandal ans Licht: Ungarn wurde als einziges Land in der Europäischen Union beim Einsatz der NSO-Spionagesoftware ertappt. Und innerhalb von drei Tagen wurde das temporäre Verbot von Volksabstimmungen aufgehoben: Viktor Orbán selbst verkündete auf seiner Facebook-Seite, dass er ein Referendum anberaumt, um das Volk zu fragen, ob es "sexuelle Propaganda" für Minderjährige erlauben will. Wieder ein hervorragendes Ablenkungsmanöver. Und egal, wie das Referendum ausgehen wird, ob die Beteiligung daran hoch genug sein wird oder nicht, die Regierung wird es nutzen, um zu kommunizieren, wie sie das ungarische Volk vor dem "dekadenten" Westen und den LGBTQI-Menschen schützt.

Aber was für die Regierung nur Schall und Rauch ist, ist das Leben, das Wohlergehen, die Sicherheit von LGBTQI-Menschen. Jedes Mal, wenn ein weiteres diskriminierendes Gesetz verabschiedet wird, wenn homophobe und transphobe Äußerungen in den öffentlichen Medien wiederholt werden, wird Gewalt und Belästigung gegen LGBTQI-Personen legitimiert. Die LGBTQI-Jugend und tausende Familien werden im Stich gelassen. Wir zahlen den Preis für jede Stimme, die Fidesz mit diesen Hasskampagnen zu gewinnen versucht. Und nicht nur LGBTQI-Personen, sondern jeder, der in Ungarn lebt: in einer unterdrückerischen, tyrannischen Atmosphäre, in einer polarisierten Gesellschaft, in der wir alle unglücklich werden. (Luca Dudits, 24.7.2021)