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In Belgrad sind Wandmalerei zu finden, die den verurteilten Kriegsverbrecher Ratko Mladić zeigen.

Foto: AP/Darko Vojinovic

Lebenslügen sind besonders toxisch, wenn sie tief in einem Kollektiv verankert sind, weil die Scheinrealität von niemandem rundherum hinterfragt wird. Mit der Einführung von Strafrechtsparagrafen, nach denen die Leugnung von Kriegsverbrechen und die Verherrlichung von Kriegsverbrechern verboten wird, versucht der Hohe Repräsentant Valentin Inzko in Bosnien-Herzegowina, den institutionalisierten Revisionismus, aber auch die weit verbreitete Muslimenfeindlichkeit aufzubrechen.

Er tue dies, weil er überzeugt sei, so sagt er, dass nur die Wahrheit zu einer echten Befreiung der Menschen führe. Tatsächlich verhinderte die Lügenpropaganda der Nationalisten bisher, dass die Bosnier und Herzegowiner – egal welche Namen sie haben und welcher Religion sie nahestehen – zusammen leben und zusammen an einer Zukunft arbeiten können.

Lügen für die Macht

Die Nationalisten lügen auf vielen Ebenen, wenn es etwa darum geht, wer für den Krieg und die Massengewalt verantwortlich ist, aus welcher diese Ideologie entstanden ist, und wer welchen Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Noch schlimmer: Sie verherrlichen jene, die tausende Menschen ermordet haben. Die Rassisten verwenden einen perfiden Trick: Sie geben vor, dass ihre verquere Geschichtsinterpretation irgendetwas mit der Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe zu tun hat, nach dem Motto: Wenn du ein Serbe sein willst, musst du auch unsere Ideologie vertreten.

Die Nationalisten machen demnach bewusst und wissentlich unwahre Aussagen über den Bosnien-Krieg (1992–1995), obwohl die Fakten wissenschaftlich und juristisch bestens dokumentiert sind. Laut dem bosnischen Totenbuch waren 81 Prozent aller zivilen Opfer (38.239) im gesamten Gebiet von Bosnien-Herzegowina Menschen mit muslimischem Namen – Bosniaken genannt –, nämlich 31.107. Bei 4.178 Opfern handelte es sich um Serben (elf Prozent) und bei 2.484 um Kroaten (sieben Prozent).

Verbrechen basierten auf rassistischer Ideologie

Die große Mehrheit der Verbrechen basierte auf einer rassistischen Ideologie, wonach alle Nichtserben in Teilen von Bosnien-Herzegowina vertrieben oder vernichtet werden sollten, um ein "ethnisch reines" Großserbien zu errichten. Diese Politik der "ethnischen Säuberung" war bereits 1992, dem Jahr, in dem in Ostbosnien und rund um Prijedor die allermeisten Muslime ermordet wurden – mehr als in Srebrenica 1995 –, ganz klar ersichtlich. Die damalige Vizepräsidentin der Republika Srpska, Biljana Plavšić, meinte: "Muslime sind entartete Slawen. Als Biologin weiß ich das."

Jene bosnischen Serben, die sich nicht manipulieren lassen, werden bis heute zu Verrätern gemacht. Die allermeisten bosnischen Serben haben überhaupt nichts mit den Verbrechen zu tun. Sie werden aber von Politikern mit diesen Verbrechern zu Unrecht in Verbindung gebracht.

"Serbenhasser"-Vorwürfe als Totschlagargument

Die Reaktionen der Nationalisten auf die Strafrechtsparagrafen offenbaren das Lügenkonstrukt. Der rechtsextreme Politiker Milorad Dodik, Chef der größten bosnisch-serbischen Partei SNSD, meinte absurderweise, der Vater des Kärntner Slowenen Valentin Inzko sei ein Gestapo-Offizier gewesen und Inzko selbst sei ein "Serbenhasser", obwohl Inzko ganz klar machte, dass es überhaupt nicht um Volksgruppen, sondern um die Individualverantwortung von Verbrechern, egal welcher Volksgruppe, gehe. Andere meinten, dass Inzko so handle, wie er handle, weil er aus demselben Land wie Hitler komme.

Der Bürgermeister von Banja Luka, Draško Stanivuković, sprach von der "größtmöglichen Katastrophe" und meinte, dass die Entscheidung von Inzko nicht gut "für unser Volk" sei. Den nationalistischen Politikern geht es darum, die Bürger weiter zu manipulieren – ohne dass diese das merken – mit dem Zweck, einen Vorteil daraus zu ziehen. Sie wollen einfach ihre Macht, ihre Positionen und ihre finanziellen Vorteile absichern und Konkurrenten ausschalten. Doch Lügen kostet Energie und Zeit und blockiert andere mögliche Handlungen. Dieser Mangel an konstruktivem politischem Handeln wird jeden Tag in Bosnien-Herzegowina offenbar. Es gibt hier praktisch keine Reformen, weil die meisten Leute mit den nationalistischen Wahngebäuden beschäftigt sind.

Keinerlei Unterstützung

Für die Opfer der Verbrechen ist die Art, wie ihnen ihre Erfahrungen abgesprochen werden, extrem verletzend. Die Lügen über den Krieg sind für sie eine massive Aggression und verursachen irreparable Schäden. Das allein sollte schon dazu führen, dass die offensichtlich staatsfeindlichen Politiker in Bosnien-Herzegowina von EU-Staaten sanktioniert werden. Doch die Europäer sind offenbar zu feige dazu. Das weiß man auch längst in Bosnien-Herzegowina, und deshalb gibt es wenig Vertrauen in die EU. Bereits vor dem Krieg und während des Kriegs haben europäische Diplomaten und Staaten sich immer wieder mit den Nationalisten gemein gemacht.

Inzko selbst wurde lange Zeit vorgeworfen, zu wenig in Bosnien-Herzegowina bewirkt zu haben. Ein Teil der Realität ist aber auch, dass er keinerlei Unterstützung von wichtigen westlichen Staaten oder der EU bekommen hat. Wie bereits seinen Vorgängern wurde auch ihm praktisch untersagt, die Bonner Vollmachten zu nutzen.

Im Alleingang

Auch jetzt, als er am Ende seiner Amtszeit doch noch durchgriff, wurde er von keinem Staat unterstützt. Einer seiner Vorgänger, Christian Schwarz-Schilling, schrieb deshalb: "Lieber Valentin, ich darf dir meine große Hochachtung aussprechen (…) Das hast du im Alleingang gemacht! Du hast somit dein Versprechen gegenüber den Müttern von Srebrenica gehalten." (Adelheid Wölfl aus Sarajevo, 25.7.2021)