Spärlich sind die Nahrungsmittellieferungen, die die Hilfsorganisationen in die äthiopische Provinz Tigray bringen dürfen (Archivbild vom 11. Juli 2021).

Foto: AFP / Edoardo Soters

In der äthiopischen Tigray-Provinz verschlimmert sich die ohnehin katastrophale Lage dramatisch. Nachdem Regierungschef Abiy Ahmed einen von ihm vor vier Wochen einseitig ausgerufenen Waffenstillstand für gescheitert und einen "totalen Krieg" gegen die "Tigray Defense Forces" (TDF) erklärt hat, sucht er den Widerstand der Provinzbevölkerung nun offensichtlich durch Aushungern zu brechen.

Mitarbeiter internationaler Hilfswerke berichten von einer fast vollständigen Blockade Tigrays, wo über sechs Millionen Menschen leben. Unter den gegenwärtigen Bedingungen sei "in den nächsten zwei Wochen" mit einer Hungersnot zu rechnen, sagte ein leitender Vertreter einer internationalen Nichtregierungsorganisation (NGO) im Gespräch mit dem STANDARD.

Seit dem Teilabzug der äthiopischen Truppen vor vier Wochen hat nur ein Hilfskonvoi Tigray erreicht, dessen 54 Lastwagen beförderten laut Uno lediglich ein Prozent der benötigten Hilfsgüter: Um den tatsächlichen Bedarf zu decken, bräuchte es täglich einen solchen Konvoi.

Von Feinden umgeben

Die Provinz ist von feindlichen Kräften umgeben: Im Norden von eritreischen Truppen, im Süden und Westen von der äthiopischen Armee, die noch von Amhara-Milizen unterstützt wird. Lediglich über die östliche Afar-Provinz und den Flughafen in Semera war Tigray zuletzt erreichbar. Inzwischen ist auch die Straße von Semera wegen Kämpfen unpassierbar. Mehr als 200 UN-Lastwagen sind in der Afar-Provinz blockiert.

Der Flugverkehr in die Provinzhauptstadt Mekelle kam zum Erliegen, außerdem sind Strom, Mobilfunk- und Internetverbindungen unterbrochen. Auch das Benzin wird knapp: Internationale Hilfswerke müssen Sprit rationalisieren, was ihre Arbeit einschränkt. Selbst die Banken haben dichtgemacht.

Gefährliche Anschuldigungen

Besorgt äußerte sich der NGO-Funktionär ferner über Vorwürfe der Regierung, die internationalen Hilfswerke steckten mit den "Terroristen" der Tigray Defense Forces unter einer Decke und schmuggelten Waffen. Die Anschuldigungen seien "falsch" und "gefährlich". Die Mitarbeiter der Hilfswerke würden Übergriffen ausgesetzt. Bisher starben in dem Bürgerkrieg mindestens zwölf Angehörige ausländischer Hilfswerke.

Wie systematisch die äthiopische Regierung bei der Blockade Tigrays vorgeht, wird auch an den Reisebeschränkungen deutlich. Helfer dürfen weder Computer noch Mobil- oder Satellitentelefone nach Tigray mitnehmen, wurde dem STANDARD berichtet. Selbst abgepackte Lebensmittel und Medikamente für den eigenen Bedarf würden beschlagnahmt. Manchmal seien sogar Visa annulliert worden.

In einem Bericht von Direktoren internationaler Hilfswerke heißt es: "Die humanitäre Situation ist an einem Scheideweg angekommen. Die Zeit geht aus. Wir haben nur noch Wochen, bevor aus unserer Operation zur Rettung von Leben eine zur Verwaltung des Todes wird."

Vor zehn Tagen hatte Abiy das Ende des Waffenstillstands verkündet, weil dieser nicht die "erhofften Früchte" getragen habe. Gleichzeitig begann auch die von ihren militärischen Niederlagen in Tigray stark dezimierte Armee mit der Rekrutierung von Soldaten, vor allem aus den südlichen Provinzen des Landes.

Milizen machen mobil

Auch die Milizen der Amhara-Provinz machten mobil: Sie bereiten sich auf einen Angriff der TDF auf den Westen Tigrays vor, der von Regierungstruppen und Amhara-Milizen eingenommen wurde. Später kam es dort zu "ethnischen Säuberungen". Sowohl Amhara wie Tigray erheben Anspruch auf die Region: Zahllose Amhara seien vor 30 Jahren von dort vertrieben worden, heißt es in Bahir Dar, der Hauptstadt der Amhara-Provinz. Bei der Aufteilung Äthiopiens in Provinzen war die Region 1991 Tigray zugeschlagen worden. Bevor nicht auch der Westen "befreit" sei, werde die TDF ihren Kampf nicht einstellen, sagte Sprecher Getachew Reda zum STANDARD.

Diplomaten in Addis Abeba hatten erwartet, dass Abiy nach seinem Wahlsieg Verhandlungen aufnehmen würde – das Gegenteil scheint nun der Fall zu sein: In Äußerungen, die an Hassreden vor dem Völkermord in Ruanda erinnern, bezeichnete Abiy Tigray als Äthiopiens "Krebsgeschwür" und die TDF als "Emboch": eine sich rasant ausbreitende Wasserhyazinthe, die die Gewässer des Landes verstopft. (Johannes Dieterich, 25.7.2021)