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"Neuer Midcult": Reicht es aus, wenn ethisch-moralische Fragen gestellt werden?
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Murakami, Knausgård, Kehlmann, Franzen? Alles Kitsch, meint Moritz Baßler. Im Aufsatz "Der Neue Midcult" in der Pop-Zeitschrift rechnete der Germanist jüngst mit den Bestsellern aktueller Literatur ab. Warum?

STANDARD: Sie werfen der am gehobenen Belletristikmarkt heute erfolgreichen Literatur "Midcult" vor. Den Begriff übernehmen Sie von Umberto Eco, der meint, dass Bücher Lesern das täuschende Gefühl geben, an Hochkultur teilzunehmen, indem sie mit großen Themen hantieren, während sie tatsächlich unzureichend sind. Wie kommen Sie zu Ihrem Urteil?

Baßler: Indem ich mich mit Literatur etwa von Bernhard Schlink und Daniel Kehlmann beschäftigt habe, in der Figuren auftauchen, die Genies sind, oder wo eine besondere Form von Aisthesis erzählt wird. Dabei ist mir aufgefallen, dass es einen Kurzschluss gibt zwischen dem, was thematisch behandelt wird, und dem, was das Werk selber leistet. Ein Werk über ein Genie ist ja nicht zwangsläufig selbst genial. Man hat das Gefühl, man nimmt an Hochkultur teil, in Wirklichkeit ist es aber nur populärer Realismus wie ein großer Teil der übrigen Unterhaltungsliteratur auch. Trotzdem gibt es einen Diskurs, der das als relevante Literatur abbildet, sie wird vielfach als preiswürdig empfunden und ausgezeichnet. Da gibt es also eine Diskrepanz.

STANDARD: Noch ein Beispiel?

Baßler: In der deutschsprachigen Literatur ist das oft bei Familienromanen der Fall, die mit Nationalsozialismus arbeiten. Da kommen dann schwere Zeichen rein: Wenn Auschwitz in einem Text genannt wird, denkt man, er ist wirklich bedeutungsschwer. Oft ist das aber nur ein thematischer Import, der die Anmutung ergibt, der Text sei große Literatur. Der Text an sich wird dieser Schwere seines Themas formal jedoch nicht gerecht. Eine Anmaßung von großem Sinn mittels Themen.

STANDARD: Wir reden aber nicht von Ramschliteratur, Sie kritisieren einen "Murakami-Franzen-Schlink-Knausgård-Ferrante-Kehlmann-Komplex". Besorgt es Sie, wo der Erfolg von Midcult programmtechnisch hinführt?

Baßler: Ich denke, Hanser hat Stella von Takis Würger vor allem aus finanziellen Gründen verlegt, weil man sich gedacht hat, das wird der neue Bernhard Schlink, der nächste Vorleser: mit Nationalsozialismus, süffig erzählt, Erotik drin. Dagegen gab es seitens der Literaturkritik heftige Reaktionen, dann schlossen sich aber die Buchhändler mit dem Verlag und den Lesern zusammen. Midcult bezeichnet ein in sich stimmiges Verhältnis von Angebot und Nachfrage: Etwas funktioniert am Markt – und die Kritik ist außen vor. Diese Diskrepanz zwischen dem professionellen Blick auf Texte und dem Markt wird stärker.

STANDARD: Woran liegt das? Weil Verlage in Zeiten sinkender Käuferzahlen gezielter solche Titel pushen? Weil Menschen sich weniger mit Literatur befassen und auf große Namen gehen?

Baßler: Bei manchen Bestsellerautoren wird ja marketingmäßig evaluiert, was im nächsten Buch vorkommen soll. Dann spielen soziale Medien eine große Rolle. Man braucht für Tipps keine Kritikerinnen und Literaturwissenschafter mehr! Und für Buchhändler ist so etwas wie Stella ein Glücksfall: Weil es sich gut liest, können sie es guten Gewissens empfehlen, gleichzeitig lernen Kunden noch was über den Nationalsozialismus. Jede Zeit kriegt die Literatur, die sie verdient, und das ist unsere. Ich lese das ja auch. Ich gucke auch oft Netflix, selten Arte.

Moritz Baßler bearbeitet seit den 2000ern die Popliteratur.
Baßler/Privat

STANDARD: Laut Ihrem Aufsatz gibt es inzwischen auch einen "neuen Midcult", der auf moralische Aspekte baut.

Baßler: Midcult gibt es, seit es einen Buchmarkt und ein weitverbreitetes Lesen gibt. Neu aber ist, dass es bei Midcult zuletzt stärker um ethisch-moralische Fragen geht. Dass es Lesern und Feuilletons schon reicht, wenn Themen wie Diskriminierung und Unterdrückung vorkommen.

STANDARD: Aber ist es nach vielen ästhetischen Avantgarden nicht okay, wenn sich nun auf der Diversitätsebene mehr tut, eine Art inhaltliche Avantgarde laut wird: Migration, Armut, Queerness, Hautfarbe? Können Bücher angesichts sinkender Leserzahlen so nicht an Boden gewinnen?

Baßler: Neue Themen und Diskurse wandern ja immer in die Literatur ein. Aber Krebs oder ein Nazi ist im Roman etwas anderes als im Leben, eine Eins-zu-eins-Übertragung in Literatur ist nicht möglich. Eine inhaltliche Avantgarde kann es nicht losgelöst von der Frage geben, wie diese Texte gemacht sind. Dass Neues reinkommt, rechtfertigt sie nicht. Ihre Qualität erweist sich erst in dem, was damit geschieht. Eine solche Kritik ist ja keine Abwertung.

STANDARD: Sondern?

Baßler: Sie bedeutet nicht, dass solche Literatur mit neuen Diskursen exkludiert wird, sondern gerade dass sie inkludiert wird. Aber wenn ich ein neues Thema in eine alte Struktur einsetze, in der ich einen Helden habe, der von außen bedroht ist, dann bediene ich eben Grundmuster des Trivialen. Das Problem dieser Verfahren ist, dass sie strukturelle Probleme erzähltechnisch auf gute und schlechte Menschen reduzieren. Ambivalenz verschwindet hinter falschem Humanismus. Oder wenn ich Diskriminierung als Sinn nehme und sage, der Text ist jetzt schwer, dann bediene ich das Grundmuster des Midcult.

STANDARD: Vereinfachungen bedienen zuweilen den Wunsch des Lesers nach Identifikation und Bestätigung.

Baßler: Man bekommt so immer das geboten, was man haben will. Dadurch wird nichts mehr aufgebrochen.

STANDARD: Manche könnten sagen, Sie sehen als etablierter Diskursteilnehmer Ihre Felle davonschwimmen.

Baßler: Mir fällt auf, dass dieser Midcult häufig mit einem Treten gegen Avantgarden einhergeht. Dass er sagt: Warum sollte man komplizierte Sachen lesen, wenn es doch etwas gibt, wo unsere Themen direkter bedient werden. Dann kommen Elitismus-Vorwürfe und antiakademische Ressentiments. Aber die Gesellschaft leistet sich ja Experten, deren Aufgabe es wäre, den Diskurs und Blasen zu öffnen. Sie leisten die Arbeit des Vergleichens, schaffen so eine gemeinsame Kultur!

STANDARD: Welche Titel können Sie uneingeschränkt empfehlen?

Baßler: Anne Webers Annette sieht formal kompliziert aus, ist es aber nicht. Oder Mithu Sanyals Identitti verbindet Theorie-Pop mit einem interessanten Gedankenexperiment zu Postcolonial Studies. (Michael Wurmitzer, 26.7.2021)