Als "allmächtiger" Kabinettschef von Jean-Claude Juncker bekam Martin Selmayr von Beamten der Kommission diesen Spitznamen. Heute ist er EU-Botschafter in Österreich.

Foto: APA/Hans Punz

Wussten Sie, dass der "liebe Gott" dieser Tage durch Österreich radelt? Eigentlich heißt er Martin Selmayr. Als "allmächtiger" Kabinettschef von Jean-Claude Juncker bekam er von Beamten der Kommission diesen Spitznamen. Heute ist er EU-Botschafter in Österreich.

Auf seinen Radtouren will er mit den Menschen ins Gespräch kommen und über Europa reden. Das finde ich sympathisch. Wäre Selmayr nur schon geradelt, als er an den Schalthebeln der Macht saß und nicht erst jetzt im diplomatischen Ausgedinge!

In einen Dialog treten

Seine Kommission tat sich in der Vergangenheit schwer, mit den Bürgern und Bürgerinnen in einen Dialog zu treten. Seit Jahren wird von den Mitgliedsstaaten ein höheres EU-Kommunikationsbudget blockiert. Für nationale Regierungen macht das absurderweise Sinn: Auf diese Weise können EU-Erfolge weiter als eigene verkauft und gleichzeitig unliebsame Reformen Brüssel zugespielt werden.

Aber verbesserte Kommunikation allein wird die demokratiepolitischen Defizite der Union nicht beseitigen können. Das EU-Parlament arbeitet zwar professionell, sein Einfluss ist aber weiterhin beschränkt. Weder kann es die Kommission direkt wählen noch die Präsidentin, wie die Bestellung Ursula von der Leyens zeigte.

Mehr Bürgernähe

Nun versucht die EU, mit der "Konferenz zur Zukunft Europas" mehr Bürgernähe zu schaffen. Die europäische Polis kann sich online und in teils autonom organisierten Veranstaltungen zu zehn Themen, darunter Digitalisierung, Gesundheit, Demokratie und Klimawandel, einbringen. Das ist ein guter Anfang, und wir sollten uns aktiv daran beteiligen, zumal die Initiative offen und nicht politisch gesteuert ist. In den kommenden Monaten will die EU sogar europaweite Bürgerforen organisieren, die in ihrer Zusammensetzung für die Bevölkerung der EU repräsentativ sein sollen.

Ein Problem bleibt: Es steht überhaupt nicht fest, was mit den Vorschlägen aus der Bürgerschaft passieren soll. Im Jargon der Kommission heißt das, man werde nach der Konferenz "zeitnah prüfen, wie die Schlussfolgerungen dieses Berichts wirksam weiterverfolgt werden können".

Digitale Beteiligungsverfahren

Die Onlineplattform der EU-Zukunftskonferenz ist vielleicht auch deshalb noch schlecht besucht. Dabei gäbe es genug erfolgreiche Beispiele für digitale Beteiligungsverfahren. In Barcelona, Zürich und Helsinki haben Bewohnerinnen und Bewohner echte Entscheidungskompetenz über einen Teil des Budgets in sogenannten Bürgerhaushalten. In der finnischen Hauptstadt entscheidet die Bevölkerung gerade über die Verwendung von 8,8 Millionen Euro aus dem Stadtbudget auf Basis von Einreichungen aus der Zivilgesellschaft.

Nachdem das aktuelle Förderwesen der EU nur für Spezialisten und Profis durchschaubar ist, wären offene Bürgerhaushalte und Innovationswettbewerbe ein nächster Schritt zu echter Partizipation. Die komplexen Probleme der Gegenwart werden nicht mit den Top-down-Methoden des 20. Jahrhunderts gelöst. Die Klimakrise lässt sich nicht durch Verordnungen allein eindämmen. Wir brauchen mehr Verschränkungen mit regionalen Initiativen und Selbstorganisation auf lokaler Ebene. Nur so wird es gelingen, die Kreativität und den Ideenreichtum der Menschen Europas in einer Zeit großer Transformation zu aktivieren. (Philippe Narval, 26.7.2021)