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Rad-Olympiasiegerin Anna Kiesenhofer ist eine Amateurin im besten Sinn.

Foto: REUTERS/Christian Hartmann

Annemiek van Vleuten, die Zweite des olympischen Straßenradrennens von Tokio, seit vielen Jahren ein Superstar der Szene, hatte sich am Sonntag des Verdachtes zu erwehren, die Olympiasiegerin Anna Kiesenhofer unterschätzt zu haben. "Ich habe sie nicht unterschätzt", versicherte die Niederländerin glaubhaft, "ich habe sie gar nicht gekannt."

Ähnlich war es vor einigen Jahren dem damaligen Generalsekretär des österreichischen Radsportverbandes ergangen, als Anna Kiesenhofer mit dem Wunsch vorstellig wurde, bei den Meisterschaften mitzufahren. Die Niederösterreicherin aus Niederkreuzstetten bei Mistelbach verfügte nur über eine spanische Lizenz, weil sie neben dem Studium in Barcelona Rennen fuhr – sogar erfolgreich. 2016 gewann Kiesenhofer die Copa de España.

Erste Radsportolympiamedaille seit 125 Jahren

Im Jahr darauf versuchte sich die Mathematikerin als Profi in einem belgischen Team, merkte aber, "dass der Profisport für mich ein zu großer körperlicher und psychischer Stress ist und ich lieber nur Hobbysport mache". Kiesenhofer wurde wieder zur Amateurin – im besten Sinn des Wortes. Österreichs erste Olympionikin seit 2004, die dem österreichischen Radsport die erste Medaille seit 125 Jahren besorgte, gibt freimütig zu, es gerne sehr genau zu nehmen. Etwa in Materialfragen. Auch sonst nähert sich die 30-Jährige ihrem Sport wissenschaftlich. Die Expertin für partielle Differentialgleichungen an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL), die auch in Wien und Cambridge studierte, beschäftigt sich intensiv mit Aerodynamik und bestmöglichem Krafteinsatz. Mit den Fehlern anderer rechnet Kiesenhofer lieber nicht, weshalb ihr Rennen Frau gegen Frau und im Peloton weniger liegen. Ihre Stärke liegt im Kampf gegen die Uhr, die dreimalige österreichische Zeitfahrmeisterin war 2019 EM-Fünfte in dieser Disziplin.

In Lausanne beschäftigt sich Postdoc Kiesenhofer mit mathematischen Modellen physikalischer Vorgänge. "Von schwingenden Saiten über Wärmeleitung bis zu elektromagnetischen Wellen, der Quantenphysik und der Allgemeinen Relativitätstheorie – all das basiert auf partiellen Differentialgleichungen", umriss sie das Gebiet in einem Interview mit science.ORF.at.

Ihrem Beruf wird sie ungeachtet der Angebote, die sie als Olympiasiegerin zu gewärtigen hat, treu bleiben. "Aber dieser Erfolg gibt mir sehr viel Selbstvertrauen. So gesehen, werde ich eine andere Person sein." (Sigi Lützow, 25.7.2021)