Kais Saied hätte den Zeitpunkt nicht besser wählen können: Nach monatelangen Auseinandersetzungen zwischen Parlament, Regierung und Präsidentenpalast hatten am Sonntag in ganz Tunesien mehrere tausend Menschen demonstriert, trotz Corona-Krise, massiver Polizeipräsenz und Temperaturen über 40 Grad. Die Wut der Demonstranten richtete sich vor allem gegen die muslimisch-konservative Ennahda-Partei, stärkste Kraft im Parlament, und gegen die Regierung von Premierminister Hichem Mechichi, die seit einem Jahr im Amt ist. Ihnen werden Postenschacher und Missmanagement, nicht nur in der Corona-Krise, vorgeworfen.

Ausgangssperre verordnet

Schon am späten Sonntagabend hatte der Präsident in einer kurzen Videoansprache erklärt, er habe sich in Absprache mit führenden Sicherheitskräften dazu entschieden, wegen drohender Gefährdung des Staates den Notstand auszurufen, den Regierungschef zu entlassen, die Arbeit des Parlaments für 30 Tage auf Eis zu legen und die Immunität der Abgeordneten aufzuheben. Auch Verteidigungsminister Ibrahim Bartaji und die amtierende Justizministerin Hasna Ben Slimane mussten ihre Posten räumen. Er werde unterdessen in Personalunion die Regierungsgeschäfte übernehmen und als Staatsanwalt agieren, um Verfahren gegen politische Verantwortliche anzustrengen, die gegen das Gesetz verstoßen hätten, sagte Saied. Den Vorwurf eines Putsches wies er zurück.

Am Montag verhängte Saied via Facebook eine Ausgangssperre. Diese gelte ab sofort bis zum 27. August von 19.00 Uhr bis 06.00 Uhr. Ausnahmen gebe es nur für dringende medizinische Notfälle und Nachtarbeiter. Zudem dürften sich nicht mehr als drei Menschen in der Öffentlichkeit treffen.

Kais Saied erklärte seine Entscheidung in einer Ansprache.
Watania Replay

Erneut wies er per Video den Vorwurf eines Putsches zurück. "Die größte Gefahr für eine Nation ist eine innere Explosion", sagte Saied. Zudem versuchte er die Wirtschaft zu beruhigen: "Wir haben kein Problem mit Geschäftsleuten."

Seine Ansagen lösten in Teilen der Bevölkerung Begeisterung aus. In vielen Städten des Landes gingen die Menschen spontan und trotz nächtlicher Ausgangssperre auf die Straße. In der Hauptstadt Tunis gab es Feuerwerke und stundenlange Autokorsos. "Es lebe Tunesien", riefen die Menschen und applaudierten Armeefahrzeugen, die in der Innenstadt und vor dem Parlament aufzogen. Sie freuten sich, dass der Präsident der seit Jahren andauernden Krise an der Spitze des Staates ein Ende gesetzt habe.

Putschvorwurf

Doch die Zustimmung ist nicht ungeteilt. Ennahda-Vorsitzender und Parlamentspräsident Rached Ghannouchi sprach in der Nacht von einem Staatsstreich und warf Saied vor, die Verfassung zu missachten. Dieser hätte seine Entscheidung laut Verfassung mit dem Parlamentspräsidenten und dem Regierungschef absprechen müssen. Stattdessen habe Saied ihn nur über "neue Maßnahmen" informiert, ohne weitere Details zu erläutern, so Ghannouchi zum Fernsehsender Al Jazeera – der am Montag von der Polizei gestürmt wurde.

Mindestens zehn bewaffnete Beamte hätten das Büro in Tunis betreten und alle Journalisten aufgefordert, das Gebäude zu verlassen, berichtete der Sender. Die Polizisten hätten Telefone und anderes Gerät beschlagnahmt und erklärt, auf Anweisung der Justiz zu handeln. Durchsuchungsbefehle hätten sie nicht gehabt. Ihren persönlichen Besitz durften die Mitarbeiter nicht mitnehmen.

Berichten tunesischer Medien zufolge wurde Regierungschef Mechichi am Sonntag über mehrere Stunden im Präsidentenpalast festgehalten, bevor er nachts unter Hausarrest gestellt wurde. Den Parlamentariern der Regierungskoalition verweigerte die Armee in der Nacht den Zutritt zum Parlament, wo am Montag eine Plenarsitzung hätte stattfinden sollen.

In Tunis wurde Saieds Entscheidung gefeiert.
Foto: imago images/NurPhoto

Auch die Verfassungsrechtlerin Sana Ben Achour erklärte in den Medien, das Handeln des Präsidenten sei mit der Verfassung nicht vereinbar. Saied, der selbst Verfassungsrechtler und pensionierter Jusdozent ist, interpretiere den Text, wie es ihm nütze, so der Vorwurf seiner Kritiker. Seine Machtübernahme sei der Beginn eines neuen autoritären Regimes.

Inexistentes Verfassungsgericht

In dieser Situation rächt sich, dass das Verfassungsgericht, das eigentlich bis 2015 seine Arbeit hätte aufnehmen sollen, bis heute nicht im Amt ist. Laut Artikel 80 der Verfassung, auf die der Präsident seine Machtübernahme stützt, hätte er das Verfassungsgericht konsultieren müssen. In den vergangenen sechs Jahren hatten politische Streitereien im Parlament jedoch verhindert, dass die Abgeordneten die Richter wählen.

Kais Saied hatte schon während seines Wahlkampfes 2019 keinen Hehl daraus gemacht, dass er die Arbeit des Parlaments wenig schätzt und das semiparlamentarische System für Tunesien als nicht geeignet befindet. Er war angetreten mit dem Versprechen, jungen Leuten eine Stimme zu geben, und favorisiert eine Art basisdemokratisches, dezentralisiertes Rätesystem. Ob und wie er dieses Versprechen nun umsetzen will, ist offen. Die angekündigten Maßnahmen sollen zunächst für 30 Tage gelten.

Eine Demonstrantin bei einer Protestkundgebung gegen die Ennahda-Partei in Tunis.
Foto: imago images/ZUMA Wire

Parteibüros gestürmt

Während Ennahda seine Anhänger aufrief, die Büros der Partei zu schützen, die am Sonntag in mehreren Orten von Demonstranten gestürmt wurden, und gegen die Maßnahmen zu demonstrieren, sind andere politische Akteure zurückhaltender. Nur eine sozialdemokratische Oppositionspartei verurteilte in einer kurzen Presseerklärung das Handeln des Präsidenten. Auch öffentliche Reaktionen aus dem Ausland blieben bis jetzt aus.

Mit Spannung war erwartet worden, wie sich der mächtige Gewerkschaftsbund UGTT positionieren wird. Dieser hatte die Revolte 2011 mit seinem landesweiten Netzwerk logistisch massiv unterstützt und gilt als wichtigster außerparlamentarischer Akteur in der politischen Landschaft Tunesiens. Am Montagnachmittag stellte sich die Gewerkschaft hinter Präsident Saied. Der Vizegeneralsekretär der UGTT erklärte in einem Radiointerview, die Entscheidungen des Präsidenten seien legal. Es solle im Dialog eine Lösung gefunden werden. (Sarah Mersch aus Tunis, 26.7.2021)