Verpixelte Phalli in Bewegung: Lil Nas X provoziert wieder mit Anlauf.

Foto: Columbia Records

Was haben Metallica und Gwen Stefani, Michael Jackson und Alicia Keys, Bilderbuch und 50 Cent, Falco und Lady Gaga gemeinsam? Alle verbrachten Zeit hinter schwedischen Gardinen, zumindest in einem ihrer Musikvideos.

Auch Elvis ließ bereits 1957 die Hüften im Häfn im Rahmen des Musikfilms Jailhouse Rock kreisen, damals ein großer Aufreger. Lil Nas X, der aktuell beliebteste Schlingel im Internet, steht also mit seinem neuen Video zum Song Industry Baby in solider Popkultur-Tradition.

LilNasXVEVO

Was bei Elvis angezogen passierte, passiert heute unbekleidet, was damals hetero war, ist nun schwul: Wir dürfen uns in der Schlüsselszene des fantastisch campen Videos also an einem queeren Gruppennackttanz erfreuen.

Das sind doch gute Nachrichten für alle, die keine Karten für die Impulstanz-Saison bekommen haben! Im Ernst: Hierzulande lassen ein paar verpixelte Phalli wohl niemanden das Blut zu, äh, Kopf steigen, in den USA kann man mit so etwas aber richtig gut provozieren.

Die Sache ist politisch

Lil Nas X, der sich bereits mit seinem Video zu Montero (Call Me By Your Name) einen Namen als Provokateur gemacht hat (Lapdance für den Teufel!), weiß, wie es geht. Rein optisch würde man sein opulent-buntes Video bei Lady Gagas und Beyoncés Telephone oder bei Gwen Stefanis The Sweet Escape ansiedeln, inhaltlich hat das Ganze aber fast mehr mit Metallica, die im Video zu St. Anger im San Quentin State Prison vor echten Häftlingen spielten, oder Michael Jacksons They Don’t Care About Us (Prison Version), das auf Menschenrechtsverletzungen hinweist, zu tun. Sprich: Die Sache ist politisch.

So drehte der Rapper ein Prélude zum Industry Baby-Video, in dem er vor Gericht steht. Lil Nas X, der ja tatsächlich von Nike geklagt wurde, weil er einen Nike-ähnlichen Sneaker auf den Markt gebracht hatte, wird in dem fiktionalen Video aber nicht wegen der Schuhe, sondern weil er schwul ist, zu fünf Jahren Haft verurteilt. Viel deutlicher kann man "Homophobie spielt bei Verurteilungen wohl eine Rolle" nicht formulieren.

Lil Nas X

Auch die Diskriminierung der Polizei und Justiz gegenüber Nichtweißen in den USA, die öfter verhaftet und dann wegen der gleichen Delikte zu längeren Haftstrafen verurteilt werden, kritisiert Lil Nas X implizit. Und auch explizit: Er startete ein Fundraising für die Non-Profit-Organisation The Bail Project, die das System der Barkaution abschaffen will. "Ich kenne den Schmerz, den eine Inhaftierung für eine Familie bedeutet. Und ich kenne die unverhältnismäßigen Auswirkungen, die Barkaution auf Afroamerikaner hat", sagt Lil Nas X über seine Beweggründe.

Irgendwer wird jetzt sicher einwerfen: "Hehre Motive, aber hat der Lil Nas X dafür wirklich sein Zumpfi herumwedeln müssen?" Im Zweifel für den Nackerten! Denn kein Tweet, keine Rede, keine Stiftung hätte je so viel Sichtbarkeit für das Projekt gebracht wie das Video, unter dem das Bail Project direkt verlinkt ist.

Erst seit drei Tagen ist Industry Baby online und zählt jetzt schon 30 Millionen Views. (Amira Ben Saoud, 27.7.2021)