Der Wunsch, mit ihrem Einkaufswagen an einer Gruppe vorbeizukommen, sei die Wurzel allen Übels gewesen, ist eine Verletzte überzeugt.

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Wien – "Du Nutte" wollte sich Frau M. zwei Tage vor Weihnachten im Gang eines Drogeriemarktes nicht schimpfen lassen. Deshalb drehte die 45-Jährige auf dem Weg zur Kassa auch um und stellte Herrn S. zur Rede. Ein Streit entstand, in dessen Folge die Frau dem Mann eine Ohrfeige gab und S. ihr einen verschobenen Nasenbeinbruch zufügte. Weshalb sich der unbescholtene Herr S. nun mit einer Anklage wegen Körperverletzung vor Richter Thomas Kreuter wiederfindet, der ergründen muss, was wirklich passiert ist.

Der 35-jährige Angeklagte Iraner erzählt nämlich eine ganz andere Geschichte. "Ich war mit meinem Lebensgefährten sowie meinem Mitbewohner in dem Geschäft einkaufen", beginnt er. Der Mitbewohner ist korrekter eine Mitbewohnerin, da sie transgender ist. Sie wollte ein bestimmtes Shampoo, das offenbar nicht mehr vorrätig war. S. lässt übersetzen, er habe doch noch ein letztes Exemplar im Regal entdeckt und daher der ebenfalls iranischen Transperson auf Persisch scherzhaft zugerufen: "Du Nutte, dein Shampoo ist hier, ich habe es gefunden!"

Lautstarker Streit auf Persisch

Das müsse Frau M. irrtümlicherweise auf sich bezogen haben, ist der Angeklagte überzeugt. Sie sei nämlich hergekommen und habe ihm auf Persisch erklärt, dass seine Mutter diesen Beruf ausgeübt habe. Man habe wild gestikulierend gestritten, dann habe er eine Ohrfeige mit dem Handrücken bekommen. Im Reflex habe er ebenfalls mit dem Handrücken zugeschlagen – und müsse bedauerlicherweise dabei die Frau mit seinem schweren Siegelring an der Nase erwischt haben, gibt S. zu.

Dass auf den Aufnahmen der Überwachungskameras bereits davor zu sehen ist, wie Frau M. warten muss, um mit ihrem Einkaufswagen an den drei Männern vorbeizukommen, überrascht den Angeklagten. Daran könne er sich nicht erinnern, beteuert er. Dafür weiß er, dass die Verletzte danach geschimpft habe: "Du Afghane, ich werd dich fertigmachen, ich werd dich umbringen!"

Sein Partner, der im Trachtenjanker erscheint, bestätigt die Version des Angeklagten. Er spreche nur rudimentär Persisch, es sei aber klar gewesen, dass die Dame und sein Freund Streit hatten, beschreibt er. "Es war eine sehr aggressive Situation", S. habe nach der Ohrfeige im Reflex zurückgeschlagen.

Blockierter Gang als Ausgangspunkt?

Die von Alida Harrich vertretene Frau M. hat die Situation völlig anders erlebt. Die Frau, die einen guten Kopf größer als der Angeklagte ist, ist überzeugt, dass S. sie bereits beleidigt habe, als sie mit ihrem Einkaufswagen vorbei wollte. "Ich habe das Gefühl gehabt, dass sie über mich reden", schildert sie. Was genau gesagt wurde, wisse sie aber nicht mehr.

Auf dem Weg zur Kassa sei sie wieder an den Männern vorbeigekommen. "Als sich unsere Blicke kreuzten, hat der Angeklagte gesagt: 'Du Hure, wenn du rauskommst, werde ich es dir zeigen!'", lässt M. dolmetschen. Darauf habe der Streit begonnen. Richter Kreuter ist ob dieser Darstellung irritiert: Bei der Polizei hatte die Zeugin nämlich noch angegeben, sie sei erst nach der Beleidigung zu S. zurückgekehrt. "Ja, das hat mich schon sehr geärgert, daher bin ich zurückgegangen und habe geschimpft", korrigiert die Zeugin sich.

Widersprüchliche Angaben

"Aber hat der Angeklagte Ihnen nun ins Gesicht gesehen, oder haben Sie etwas im Vorbeigehen gehört?", will der Richter eine präzise Angabe. M. muss zugeben, dass es im Vorbeigehen gewesen sei. Sie bleibt aber überzeugt, dass die Beleidigung ihr gegolten habe. "Aber wieso sollte der Angeklagte Ihnen drohen? Vor allem, wenn Sie offensichtlich vor ihm das Geschäft verlassen werden?", ist Kreuter noch immer verwirrt. M. meint, es müsse sich auf ihre Bitte, vorbeigelassen zu werden, bezogen haben. Der Richter gibt zu bedenken, dass man mitunter fälschlicherweise glaubt, dass Äußerungen einem selbst gelten, ändert die Überzeugung der Zeugin damit aber nicht. Von S. will die 45-Jährige 5.170 Euro für physische und psychische Schmerzen, Verteidiger Bernhard Gurker bietet im Namen seines Mandanten 2.000 Euro Entschädigung.

Mit ihrer Forderung wird M. aber ohnehin auf den Zivilrechtsweg verwiesen. Angesichts der Verantwortungsübernahme durch S. und dessen Reue entscheidet Richter Kreuter sich nicht rechtskräftig für eine Diversion. Wenn der 35-Jährige sich in den kommenden beiden Jahren nichts mehr zuschulden kommen lässt, wird das Verfahren endgültig eingestellt. (Michael Möseneder, 28.7.2021)