Drei starke Dystopien prägen gerade die Debatten, sagte Julian Nida-Rümelin am Sonntag bei den Salzburger Festspielen, und zählt auf: den Klimawandel, einen drohenden Atomkrieg in einer Welt neuer Supermächte und die digitale Transformation. Das Positive macht der Philosoph und ehemalige deutsche Kulturstaatsminister im Humanismus aus. DER STANDARD bringt Auszüge aus Nida-Rümelins Festrede.

Julian Nida-Rümelin: "Es gibt eine Utopie, die uns leiten sollte, eine humanistische Utopie. Und die hat einen Namen. Sie heißt Demokratie."
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"Platon beschreibt in der Politeia den Verfall der Stadt, des Staates, der Gesellschaft – polis ist alles. Zweites Buch: wie aus einer Gemeinschaft, die auf Kooperation beruht und zur wechselseitigen Bedürfnisbefriedigung dient – das ist die Urform der Stadt – auf einmal eine Stadt des Immer-mehr wird. Eine, die dieses Immer-mehr-Wollen bezahlt mit äußeren Kriegen und inneren Konflikten. Und die Antwort von Platon lautet: Statt auf bloße doxa, statt bloße Meinung und Vorurteil, muss die Stadt auf Wissen und Wissenschaft, auf Philosophie gegründet werden, und damit auf Tugenden.

'Tugenden' klingt angestaubt, aber es ging ihm darum, deutlich zu machen, dass die Stadt nur dann gerecht, harmonisch, in sich stimmig sein kann, wenn die einzelnen Akteure in dieser Stadt ein klares Verständnis haben von ihrer Rolle – sophrosyne nennt er das – und das ganze angeleitet ist durch eine umfassende Wissenschaftsorientierung. Dann erst lässt sich das individuelle gute Leben, eudaimonia, in ihr realisieren. Kommt uns nicht ganz fremd vor, jetzt mitten in der Pandemiekrise.

Platon glaubte nicht an einen Automatismus des historischen Fortschritts. Im Mythos des Er, das ist das letzte Buch der Politeia (...), geht es darum, dass die Seelen sich immer wieder neue Lebensformen suchen aus einer endlichen Anzahl von Lebensformen – Wiedergeburt, sie leben dann erneut. Und diese Passage endet rätselhaft, faszinierend: Schuld ist der Wählende. Gott, oder besser to theion, das Göttliche, ist schuldlos.

Wunderbare Menschenrechte

Das ist vielleicht der Beginn humanistischen Denkens. Es geht um die Verantwortung, die die einzelne Person hat. Wir wählen unsere Lebensformen, individuell und kollektiv. Wir haben die Aufgabe, diese zu gestalten. Und Menschenrechte (...) sind doch etwas ganz Wunderbares: Da einigen sich Delegierte der Generalversammlung (der UN, Anm.) aus ganz unterschiedlichen Kulturen, aus ganz unterschiedlichen Traditionen, mit unterschiedlichen Religionen, auf eine Kodifizierung des Humanismus. Nämlich dass Menschen von Natur Rechte haben, die primär Staaten verpflichten – nämlich diejenigen Staaten, die dann später sich vertraglich gebunden haben (...)

Wir haben etwas erkannt: Es ist falsch, grundlegend falsch, Menschen als bloße Instrumente für politische oder ökonomische Zwecke zu verwenden. Immanuel Kant hat das in seiner praktischen Philosophie präzisiert, eine menschliche Person ist immer auch Zweck an sich. Es ist falsch, Menschen zu foltern, auch wenn vielleicht die Folterandrohung gute Folgen hätte. Das sind Einschränkungen dessen, was zulässig ist, weil Menschen Respekt verdienen, eine Würde haben, und dies wird geschützt durch ein Cordon von individuellen Rechten und Freiheiten.

"Demokratie heißt nicht Mehrheitsdiktatur."

Und die Demokratie ist strenggenommen nichts anderes als die Einsicht, dass Menschen frei und gleich sind, gleichermaßen frei sind, dass es von Natur keine Herrschaftsordnung gibt und dass wir deswegen Individuen ihre jeweiligen Freiheitsrechte einräumen sollten, und das, was wir gemeinsam entscheiden, so gestalten sollten, dass es – ich sage das bewusst – jedenfalls von den Regeln, wie wir entscheiden, für alle akzeptabel ist. (...) Demokratie ist nicht die Diktatur der Mehrheit, sondern Demokratie heißt, Würde und Respekt der Einzelnen anzuerkennen und auf der Grundlage der gleichen Würde, der gleichen Anerkennung, die politischen Angelegenheiten gemeinsam so zu gestalten, dass jedenfalls die Art und Weise, wie wir zu Entscheidungen kommen, für alle idealiter akzeptabel ist.

Die Demokratie ist in der Hinsicht charakterisierbar als diejenige Staats- und Gesellschaftsform – und ich füge hinzu, ich erkläre das gleich: und Lebensform –, die den Menschen mit seinen Rechten, Freiheiten, seiner Würde, dem Respekt, den er oder sie verdient, in den Mittelpunkt rückt. Und dies ist nur möglich, wenn die Demokratie getragen ist von einer demokratischen Zivilkultur, von einer Zivilkultur des alltäglichen Umgangs miteinander. (...)

Die humanistische Utopie

Es gibt eine Utopie, die uns leiten sollte, eine humanistische Utopie. Und die hat einen Namen. Sie heißt Demokratie. Sie setzt voraus, dass wir alle, alle Bürgerinnen und Bürger, über praktische Vernunft verfügen. Dass wir in der Lage sind, uns ein Bild zu machen von den Herausforderungen, vor denen wir stehen. Das ist ziemlich utopisch, wenn man so will. Aber das ist Demokratie.

Unter dem Schock von zwölf Jahren NS-Terror beginnt das deutsche Grundgesetz mit Artikel 1, Absatz 1: 'Die Würde des Menschen ist unantastbar.' Das ist eine konkrete Utopie. Natürlich ist die individuelle Würde des Menschen nicht unantastbar. Sie wird oft genug angetastet. Aber die darf nicht angetastet werden, und das ist Grundlage jeder demokratischen Ordnung. Und mir scheint, dass diese konkrete Utopie, auf der die Demokratie aufruht, wert ist, verteidigt zu werden in schwierigen Zeiten, und Grund gibt, dass wir die Herausforderung annehmen, die sich allein schon dadurch ergibt, dass es die Verbindung eines souveränen, sogenannten Nationalstaates mit der Demokratie so nicht mehr gibt.

"Es gibt keine souveränen Nationalstaaten mehr. Wir sind eingebettet in rechtliche, ökonomische, soziale Zusammenhänge."

Viele Staaten sind nie Nationalstaaten gewesen. Großbritannien hat gleich vier Fußballnationalmannschaften, das kann ja kein Nationalstaat sein. Die Schweiz regelt auch ihre verschiedenen Sprachgemeinschaften sehr eigenwillig und sehr dezentral. Also sprechen wir besser von 'Einzelstaaten' statt von Nationalstaaten. Aber diese Einzelstaaten gibt es nicht mehr als souveräne Akteure. Die gibt es nicht mehr – wer da zurück will, der möchte die Geschichte rückabwickeln. Das wird nicht gelingen. (...)

Wir sind eingebettet in rechtliche, ökonomische, soziale Zusammenhänge. Und deswegen steht die Demokratie vor der großen Herausforderung, das so zu organisieren, dass ihre Substanz dabei nicht verloren geht, dass die Menschen wissen, wir sind diejenigen – das ist ja die Botschaft! –, wir, Bürgerinnen und Bürger eines Staates, sind diejenigen, die in letzter Instanz über die Richtung, in der sich unser Gemeinwesen entwickelt, entscheiden. Nennen wir das die kosmopolitische Herausforderung der Demokratie.

Zivilkultur stärken – oder wiederherstellen

Wir müssen, glaube ich, diese humanistische Utopie ernst nehmen: die demokratische Zivilkultur stärken oder in manchen Bereichen wiederherstellen, wo sie nämlich gestört oder sogar schon zerstört worden ist. Ohne demokratische Zivilkultur gibt es keine Demokratie. Und wir müssen die kosmopolitische Herausforderung annehmen, nicht defensiv abwehren, sondern annehmen. Demokratie im Zusammenhang der Nationen, der Völker, der Staaten, so organisieren, dass wir Souveränität im Sinne von demokratischer Kontrolle und Entscheidung wahren und trotzdem den kooperativen Zusammenhalt der Menschheit – das ist Humanismus – aufrechterhalten. Und wenn ich es recht sehe, ist Europa in diesem Sinne ein kosmopolitisches Projekt, und wir können uns nur alle wünschen, dass es Erfolg hat."(Julian Nida-Rümelin, 26.7.2021)