Im Rahmen der Salzburger Festspiele erhielt László Krasznahorkai den Staatspreis für Europäische Literatur. Literaturkritiker Klaus Kastberger hielt die Laudatio. DER STANDARD bringt Auszüge.

Ob László Krasznahorkai in seinen Werken auch Viktor Orbán, den ungarischen Staatschef, meint? Klar, denn wie könnte ein literarisches Werk, das von einem Staat, in dem Orbán das Sagen hat, anhaltend denunziert wird, Orbán und alles, was mit Orbán zusammenhängt, nicht meinen?

Im September des heurigen Jahres, also in wenigen Wochen, tritt an Ungarns Schulen ein neuer nationaler Grundlehrplan in Kraft. Die Werke von Autoren wie Imre Kertész, Péter Nádas, Péter Esterházy und eben auch die von Krasznahorkai sollen dann nicht mehr unterrichtet werden. Der Grund: weil von moderner Literatur nicht genau gesagt werden kann, ob sie genug Qualität und Gehalt habe. Von jenen Autoren indes, die im Lehrplan künftig verpflichtend werden, kann mit Sicherheit gesagt werden, was sie sind: völkisch, nationalistisch, antisemitisch und faschistisch.

László Krasznahorkais Werke wurden ins Deutsche übersetzt, u. a. auch "Satanstango" und "Melancholie des Widerstands".
Foto: APA / Leo Neumayr

Orbán, die Verkommenheit des Regimes und jene der ungarischen Gesellschaft bilden wie selbstverständlich ein vordringliches Thema von Krasznahorkais Literatur. Wenn man so sagen wollte, könnte man sagen, dass die Verhältnisse in Ungarn einen jeden einzelnen Satz dieses Autors grundieren. In einem seiner letzten Bücher, Baron Wenckheims Rückkehr, schwingt sich der Erzähler zu einer Hassrede auf:

"Ein so abstoßendes Volk wie euch hat die Erde noch nie auf ihrem Rücken getragen, obwohl das, was wir auf dieser Erde so im Allgemeinen sehen, alles andere als entzückend ist, aber widerwärtigeren Menschen als euch bin ich noch nie begegnet, und da ich zu euch gehöre und euch also zu nahe stehe, fällt es mir schwer, auf Anhieb genaue Worte dafür zu finden, worin dieses Abstoßende besteht, das euch auf der untersten Stufe der Nationen ansiedelt."

Kein Halt

Baron Wenckheim, die Hauptfigur des Buches, ist ein Komponist auf der Suche nach perfekten Harmonien. Das ist einer der bestimmenden Gegensätze in den Erzählwelten von Krasznahorkai. Auf der einen Seite bietet sich in seinen Büchern ein oft nur noch rudimentär vorhandenes Loblied auf eine fast schon als göttlich zu bezeichnende Schönheit vorwiegend in der europäischen Musik (...). Auf der anderen Seite ist da aber stets auch die Beschreibung einer teuflischen Gesellschaft, die von solch göttlichen Funken in der Kunst wie überhaupt von allen Formen kultureller Traditionsbildung überhaupt nichts hält. Eine solche Gesellschaft kann jederzeit von Demagogen und Ideologen verführt werden. Sie hat keinen Halt und ist dem Nichts, das sie umgibt, schutzlos ausgeliefert. (...)

In einem Fernsehbeitrag, den Denis Scheck dem Buch gewidmet hat, las der Autor genau die Zeilen vor, die ich oben zitiert habe. Leicht tänzelnd ist Scheck dann seitlich an Krasznahorkai herangetreten, hat sich nach einer etwas uneleganten Pirouette direkt neben ihn gestellt und mit einer Reihe von Fragen konfrontiert, die allesamt mit Orbán und Ungarn zu tun hatten. Die letzte Antwort, die Krasznahorkai gab, war: "Der Teufel ist draußen, und wir sind absolut ohnmächtig."

Fast ein Geheimtipp

Eine spezifische Voraussetzung der ungarischen Literatur besteht darin, dass die Ungarn mit ihrer Sprache ein so kleines Völkchen sind. Um als Autor zu reüssieren, braucht es Übersetzungen und starke Wirksamkeiten in anderen Sprachen. Im deutschsprachigen Raum ist (...) Krasznahorkai derzeit noch fast ein Geheimtipp. Die langen Sätze, die er schreibt, und die vielen anderen formalen Besonderheiten seiner Romane tragen etwas Hermetisches und auf den ersten Blick eher schwer Zugängliches in sich. In Herscht 07769, dem jüngsten Buch des Autors, das auf Deutsch im heurigen Oktober erscheint, spannt sich ein einziger Satz über die ganze Länge des Textes.

Dieses Buch ist aber, obwohl auf Ungarisch geschrieben, gar kein ungarischer, sondern ein grundsätzlich deutscher Roman. In einem einzigen Satz beschreibt das Buch die Zustände in einer kleinen Stadt in Thüringen. (...) Die ungelösten Probleme der Gegenwart stürzen über die Stadt herein: Nazis und Neonazis, verschwundene Menschen, Gewaltausbrüche und Morde und ein Bach-Ensemble auf der hoffnungslosen Suche nach ewigen Harmonien. Dies alles hat Krasznahorkai in einen einzigen elendslangen Satz gepackt, weil es nicht anders sein kann, weil nämlich in dieser ostdeutschen Gegenwart alles mit allem in Verbindung steht.

Visionäre Kraft

Im englischsprachigen Raum ist Krasznahorkai schon längere Zeit entdeckt. Ja, er genießt dort schon fast Kultstatus. In der Wohnung von Allen Ginsberg hat er Teile seines Buches Krieg und Krieg geschrieben, in dem ein ungarischer Archivar mit einem alten Manuskript im Gepäck nach New York reist, um dort zu sterben. Erst vorige Woche ging ein Bild durch die sozialen Medien, das den Autor beim Kaffeetrinken in Venedig zeigt, gemeinsam mit Patti Smith, wie cool ist das denn? Im Jahr 2015 wurde Krasznahorkai mit den renommierten Man Booker International Prize ausgezeichnet. Zahlreiche Kritiken loben seither die visionäre Kraft seines Schreibens und zeigen sich von der absoluten Finsternis seiner Erzählwelten beeindruckt.

Verlust des Humanismus

Susan Sontag prägte ein vielzitiertes Urteil, dem zufolge der Autor "gegenwärtig der ungarische Meister der Apokalypse" ist. Diese Zuschreibung ist sicher richtig, ich melde trotzdem ein Bedenken an: Denn die Apokalypsen, die Krasznahorkai schildert, sind mit Sicherheit nicht allein auf ungarische Verhältnisse beschränkt. Diskutieren könnte man auch darüber, ob es – dem Wortsinn nach – tatsächliche Apokalypsen sind, die sich in dieser Literatur abspielen. Den Weltuntergängen fehlt bei Krasznahorkai jedenfalls ein letzter religiöser Sinn. Nichts Numinoses wird an den zusammenstürzenden Welten enthüllt, meist hört in ihnen einfach nur das Humane auf, fast wie nebenbei.

Unzweifelhaft ist: Es sind Rahmen von Weltliteratur, in denen sich das Schreiben von Krasznahorkai am besten macht. Denn ja, es ist bei diesem Autor wie in den besten Momenten bei Thomas Bernhard: Wenn hier in einem dunklen Raum ein Fenster geöffnet wird, verbreitet sich im Raum nur noch mehr Finsternis. Und ja, es ist bei Krasznahorkai wie bei Kafka: Es gibt in dieser Welt unendlich viel Hoffnung, aber leider nicht für uns.

Und ja, diese Erzählwelten übernehmen auch etwas Entscheidendes von Samuel Beckett: "Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better." Auch die Bücher von Krasznahorkai versuchen sich auf unsicheren literarischen Terrains, scheitern und versuchen sich immer wieder. Ja fast hat es den Anschein, dass, je länger Krasznahorkai schreibt, seine Protagonisten mit ihren Geschichten immer besser scheitern. Niemals indes scheitert in dieser Literatur der Satz. Gerade dort, in diesen grandiosen und souveränen Sätzen ist das nicht reduzierbare Widerstandspotenzial zu Hause, das diese Literatur in sich trägt: eine Autarkie gegenüber den Verhältnissen, aus denen sie hervorgeht. (Klaus Kastberger, 27.7.2021)