Die Menschen haben das Vertrauen in die politisch zerrissenen Institutionen verloren.

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Die handstreichartige Entmachtung von Premier und Parlament in Tunis durch Präsident Kais Saied ist verstörend: Tunesien ist das einzige arabische Land, dem es nach dem Umsturz 2011 gelang, einen steinigen, aber stetigen demokratischen Übergangsprozess aufrechtzuerhalten. Noch ist offen, ob Saied, der sich selbst auf die Verfassung – und auf einen tatsächlich existierenden Notstand in Tunesien – beruft, den Weg in einen neuen Autoritarismus beschreiten wird. Aber seine Verachtung für den Parlamentarismus, seine Propagierung eines eigenen politischen Systems, das angeblich besser zu Tunesien passen soll, stimmen a priori nicht optimistisch.

Der Jubel eines Teils der Bevölkerung auf den Straßen zeigt jedoch eine unbestreitbare Realität: Die Menschen haben das Vertrauen in die politisch zerrissenen Institutionen verloren, die einander seit Jahren – schon bevor Saied 2019 Präsident wurde – aufreiben und lähmen. Sogar die mächtigen Gewerkschaften UGTT, die sich nach 2011 als Konsenssucher hervorgetan haben, geben deshalb Saied eine Chance und verurteilen dessen Schritt vorerst nicht.

Die tunesische Gesellschaft war bereits vor der jüngsten Verschärfung der Covid-Krise am Anschlag. Die strukturellen Probleme des Landes wurden über die Jahre mitgeschleppt: soziale Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit eine schwache Infrastruktur, Korruption, Polizeigewalt. Corona und der folgende Einbruch des Tourismus führten dazu, dass es auch den Menschen in traditionell besser gestellten Regionen schlechter ging. Das Staatsversagen manifestierte sich zuletzt für alle sichtbar im Zusammenbruch des Gesundheitssystems: Tunesien hatte an der Bevölkerung gemessen in den vergangenen Wochen die höchsten Infizierten- und Totenzahlen in Afrika und der arabischen Welt.

Als Opfer Saieds fühlt sich die islamische Ennahda, aus der Muslimbruderschaft stammend, die stärkste Partei in einem politisch völlig fraktionierten Parlament. Viele Tunesier und Tunesierinnen lasten ihr die Versäumnisse des letzten Jahrzehnts an, das zeigten die Übergriffe auf Ennahda-Büros noch am Sonntagabend. Dass ihre Ausschaltung mit einem prinzipiellen innerarabischen beziehungsweise -islamischen Machtkampf auf einer staatlichen Ebene verbunden ist, zeigt die Stürmung der Büros von Al Jazeera in Tunis am Montag. Der TV-Sender gehört dem Regime in Katar, war 2011 jener Kanal, der die arabischen Rebellionen am begeistertsten abbildete und gilt noch immer als Muslimbrüder-freundlich. Genauso wie die Türkei, die sich in Tunesien zuletzt vermehrt um Einfluss bemühte.

Von Saied mögen sich manche arabischen Regierungen – Kairo, Riad, Abu Dhabi – erwarten, dass er Tunesien in ruhigere Fahrwasser führt: Dass bei diesen Sponsoren die Frage der Demokratie nicht die vordringlichste ist, liegt auf der Hand. Aus einer europäischen Warte lässt sich in dieser Beziehung leicht predigen. Man sollte sich aber keine Illusionen darüber machen, dass viele Tunesier ihre Lage nicht auch gerade den Demokratien jenseits des Mittelmeers anlasten: Das Interesse an der kleinen arabischen Musterdemokratie sank dort parallel zu den wachsenden Problemen. Und auch in der Covid-Krise waren es zuletzt Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, die am schnellsten mit Impfstoffhilfe zur Hand waren. (Gudrun Harrer, 26.7.2021)