Eine Gruppe von Tschetschenen demonstrierte nach dem Mord auf einen Dissidenten im Sommer 2020 vor der russischen Botschaft in Wien

Foto: Robert Newald

Ihm sei ein Sack über den Kopf gezogen worden, daraufhin sei er von den Wachen gewürgt und verprügelt, später mit Elektroschocks gefoltert worden: So schilderte Minkail V. vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) seine Erlebnisse in einem tschetschenischen Gefängnis. Das Höchstgericht glaubte ihm, in Österreich erhielt V. Asyl. Diesen Mittwoch, 16 Jahre nach seiner Ankunft in Österreich, muss er trotz all dem am Straflandesgericht Wien erscheinen, um seine Auslieferung nach Russland zu bekämpfen. Es zeichnet sich ein diplomatischer Justizskandal ab: Offenbar versucht Russland, Interpol und das Justizsystem zu involvieren, um die Auslieferung des anerkannten Flüchtlings zu erreichen.

Erst im Oktober 2020 hatte V. vor dem EGMR gewonnen, das Höchstgericht sprach ihm 33.800 Euro zu. Daraufhin gab V. gegenüber den russischen Behörden seine österreichische Wohnadresse sowie Bankdaten bekannt. Als Antwort hieß es, V. müsse seine Entschädigung persönlich in Russland abholen. Als er sich weigerte, tauchte sein Name plötzlich auf der Fahndungsliste von Interpol auf. Sein Anwalt Alexey Obolenets legte Interpol daraufhin die Entscheidung des EGMR vor, was am 31. Dezember 2020 zur Löschung von V.s Daten aus dem Interpol-System führte.

Einfallstor Interpol

Warum muss sich V. also sieben Monate später einem Auslieferungsbegehren Russlands stellen? Für Anwalt Obolenets verletzen sowohl das Justizministerium als auch das Wiener Interpol-Büro internationale Verträge und Konventionen."Das ist ein illegales Auslieferungsbegehren", sagt Obolenets zum STANDARD. "Dennoch hat das österreichische Interpol-Büro das E-Mail aus Russland an das Justizministerium und die Staatsanwaltschaft weitergeleitet." Österreich hätte das Generalsekretariat von Interpol darüber informieren sollen, dass Russland nach wie vor Informationen über V. erhalten will, sagt Obolenets – und Moskau eine Abfuhr erteilen sollen.

Für V. werden mit der Ladung vor das Straflandesgericht am Mittwoch alte Wunden aufgerissen. Als 19-Jähriger wurde er im Jahr 2002 einer Reihe von Verbrechen beschuldigt, etwa der Mitgliedschaft in einer Bande. Im Gefängnis soll er erstmals auf jene beiden Männer getroffen sein, die laut Behörden seine Mitverschwörer waren. Die zwei Tschetschenen sollen selbst gefoltert worden sein, hätten Brandwunden und blaue Flecken gehabt. Sie belasteten V., der selbst aber nie "gestand". 2005 wurde er überraschend freigesprochen.

"Beide Beine gebrochen"

Die später ermordete Journalistin Anna Politkowskaja beschrieb V.s Fall. Die Behörden "mussten eine Quote erfüllen", schrieb sie, "islamistische Terroristen" gefangen werden. Als junger Tschetschene auf dem Höhepunkt des blutigen Krieges reichte es, dass V. ein junger Mann war, "um ihn als Mitglied der ‚Jamaat‘, einer illegalen bewaffneten Bande, zu präsentieren", schrieb Politkowskaja. Sie erzählt, wie V. das Gefängnis verließ: "Beide Beine waren gebrochen, seine Kniescheiben herausgesprungen, sein Augenlicht verloren. Sein Trommelfell war gerissen, die oberen Zähne waren abgesägt worden." Nach seiner Freilassung floh V. nach Österreich, wo er um Asyl ansuchte.

Seine Mutter hatte schon zuvor das Russische Komitee gegen Folter eingeschaltet, das seinen Fall vor den EGMR brachte. Nach mehr als einem Jahrzehnt sprach der ihm nun Recht zu. Doch in jenem Brief, den die russischen Behörden an Justizministerin Alma Zadić (Grüne) schickten, werden V. erneut all jene Verbrechen vorgeworfen, wegen denen er schon 2002 zu Unrecht im Gefängnis gelandet war. Die russische Botschaft verwies bei einer Anfrage auf die österreichischen Behörden.

"Österreich hat nicht nur Daten geliefert, sondern ein Auslieferungsverfahren gestartet", kritisiert Anwalt Obolenets. V. beschreibt sich als "vollintegriert", er stellt laut Behörden keine Gefahr dar. Das Justizministerium sagt dazu, dass Auslieferungsersuchen zu prüfen sind. Deshalb wurde das Ersuchen an die Staatsanwaltschaft Wien weitergeleitet. "Daher hat nun das Gericht darüber zu entscheiden, ob die Auslieferung zulässig ist oder nicht. (Kate Manchester, Fabian Schmid, 27.7.2021)