Heute vor 70 Jahren wurde die Genfer Flüchtlingskonvention verabschiedet. Der Zeitpunkt könnte nicht bedeutsamer sein, findet Migrationsforscherin Judith Kohlenberger. Im Gastkommentar fordert sie eine Abkehr von der Grenzschutzrhetorik.

Flüchtlinge im Lager Kara Tepe auf Lesbos: Asylpolitik zwischen Abschottung und Abschreckung.
Foto: AFP / Aris Messinis

Ganzheitliche Asylpolitik muss mehr bieten als reine Grenzschutzrhetorik. Derzeit werden Asyl- und Migrationsfragen vorrangig unter dem Aspekt der Sicherheit diskutiert, was aber paradoxerweise bisher nicht dazu geführt hat, nachhaltige Sicherheit zu schaffen – weder für die Betroffenen noch für europäische Aufnahmeländer. Letztere sind regelmäßig mit politisch instrumentalisiertem "Kontrollverlust" an ihren Grenzen, überlasteten Asylsystemen und fehlenden Rückführungsmöglichkeiten im Falle von Ablehnungen konfrontiert. Akute Kipppunkte wie der Grenzsturm auf die spanische Exklave Ceuta oder chronische Krisensituationen wie jene auf den Ägäisinseln verdeutlichen das.

Zunehmend erpressbar

Abkommen mit Drittstatten mit zweifelhafter Menschenrechtslage machen Geflüchtete zum Spielball geopolitischer Auseinandersetzungen, wovon der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan immer wieder Gebrauch macht. Nachhaltig "gelöst" wurde dadurch nichts, im Gegenteil. Die EU macht sich zunehmend erpressbar, vom Aufweichen der sich selbst gegebenen Wertebasis ganz zu schweigen. Denn das "subjektive Sicherheitsgefühl" der Europäer, mit dem hohe Investitionen in die zuletzt wieder in die Kritik geratene Grenzschutzagentur Frontex gerechtfertigt werden, ist teuer erkauft. Papst Franziskus bezeichnete das Mittelmeer als "den größten Friedhof Europas", ein Bericht der Internationalen Organisation für Migration gibt ihm recht: Die Mittelmeerroute sei die tödlichste Grenze der Welt, noch vor der stark militarisierten Grenze der USA zu Mexiko.

"Erzwungenes ist von freiwilligem Verlassen des Herkunftslandes immer schwieriger zu unterscheiden, nicht zuletzt aufgrund der Klimakrise."

Ganzheitliche Asylpolitik muss bedeuten dürfen, die bislang streng getrennten Kategorien der humanitären Aufnahme (vulgo "Flucht") auf der einen Seite und der regulären Migration auf der anderen zusammendenken zu dürfen. Das entspricht nämlich dem, wie sogenannte "gemischte Migration" zunehmend abläuft. Erzwungenes ist von freiwilligem Verlassen des Herkunftslandes immer schwieriger zu unterscheiden, nicht zuletzt aufgrund der Klimakrise.

Die Forschung zeigt zahlreiche Überschneidungen von Flucht- und Migrationsgründen, sowohl vor als auch entlang des Migrationsprozesses. Aus Mangel an Alternativen wählen vor allem afrikanische Migranten irreguläre Wege der Einwanderung, was hohe persönliche Risiken birgt und die Asylsysteme in Europa belastet. Ein ganzheitlicher Ansatz muss deshalb mehr Chancen zur legalen Einreise abseits der Asylschiene bieten, die nach klaren Kriterien zu erfolgen hat.

Regionen und Gemeinden einbinden

Ein mögliches Konzept ist jenes der "nachhaltigen Migration", die die Interessen der lokalen Bevölkerung im Herkunfts-, Transit- und Aufnahmeland miteinbezieht und den Grund- und Menschenrechten verpflichtet ist. Neben zirkulärer Migration, die einen zunehmenden Wanderungsdruck aus afrikanischen Ländern abfangen kann, braucht es mehr Durchlässigkeit zwischen humanitärer und Arbeitsmigrationsschiene.

Nach dem Vorbild Deutschlands bietet sich solch ein "Spurwechsel" an, wenn Geflüchtete in Mangelberufen ausgebildet wurden und eine Arbeitsplatzzusage vorweisen können. Die kürzlich erfolgte Aufhebung des Arbeitsmarktzugangs für Asylwerbende beizubehalten wäre ein erster Schritt in diese Richtung, werden damit doch mittelfristige demografische Herausforderungen adressiert und Integrationserfolge gefördert.

Innenpolitisches Kalkül

Zuletzt: Ganzheitliche Asylpolitik muss mehr sein als Abschottung und Abschreckung. Die Folgen einer inhumanen Lagerhaltungspolitik sieht man derzeit am deutlichsten auf Lesbos. Katastrophale sanitäre Zustände, regelmäßige Versorgungsengpässe und fast wöchentliche Berichte über suizidgefährdete Kinder zeigen: Das ist kein zufälliges, unausweichliches Naturereignis, sondern eine willentlich und wissentlich produzierte Krise. Nicht umsonst versorgen NGOs wie Ärzte ohne Grenzen, die bisher nur in Entwicklungsländern tätig werden mussten, seit Monaten die griechischen Lager. Sie sind das sichtbarste Symptom eines systemischen Versagens der EU-Migrations- und -Asylpolitik auf dem Rücken von Schutzsuchenden.

Denn dass es sich bei den Kindern, Frauen und Männern in Kara Tepe tatsächlich um Schutzsuchende handelt, verdeutlicht die Tatsache, dass etwa ein Drittel von ihnen einen gültigen Asylstatus besitzt. Weiterhin werden viele von ihnen aus innenpolitischem Kalkül nicht aufs Festland gelassen. Für sie bedeutet nachhaltige Sicherheit, möglichst rasch auf geordnete Weise evakuiert und in EU-Mitgliedsstaaten ohne Außengrenzen aufgenommen zu werden. Nicht nur in Österreich stehen dazu tausende zivilgesellschaftliche Vereine, Gemeinden, Pfarren und Einzelpersonen bereit. Liegt die Zukunft Europas, wie so oft proklamiert, in den Regionen und Kommunen, dann müssen auch sie in eine ganzheitliche EU-Asylpolitik eingebunden werden. (Judith Kohlenberger, 28.7.2021)