Jonathan Fine im sogenannten Corps de Logis, jenem Teil der Neuen Burg, in dem das Weltmuseum untergebracht ist.

Maria von Usslar

Ein studierter Ethnologe ist er nicht. Aber die akademische Laufbahn von Jonathan Fine klingt auch so beeindruckend: 1969 in New York geboren, promovierte er am archäologischen Institut der Princeton University mit einer Arbeit über das afrikanische Königreich Bamun. Zuvor hatte Fine Geschichte und Literaturwissenschaft in Chicago und Cambridge studiert sowie in Yale Rechtswissenschaften absolviert.

In den USA arbeitete er als Anwalt für Menschenrechte, erst dann zog es ihn hin zu den Museen. Zunächst ans Ethnologische Museum Berlin, wo Fine ab 2014 als Kurator für Westafrika, Kamerun, Gabun und Namibia arbeitete. Am neu entstandenen und heftig umstrittenen Humboldt-Forum wirkte er in dieser Funktion tatkräftig mit. Die Restitutionsdebatten, allem voran um Objekte aus dem Königreich Benin, fielen in seinen Bereich. Sie werden Jonathan Fine auch in Wien begleiten, wo er nun am 1. Juli seinen Job als Direktor des Weltmuseums antrat.

STANDARD: Das Weltmuseum beherbergt über 250.000 ethnografische Objekte, nur ein kleiner Bruchteil davon kann überhaupt gezeigt werden. Haben Sie schon ein Lieblingsobjekt?

Fine: Als früherer Afrika-Kurator war klar, dass meine Lieblingsobjekte meistens aus dem afrikanischen Bereich kamen, aber hier habe ich jetzt eine Verantwortung für das gesamte Haus. Da darf ich nicht parteiisch sein. Das Museum hat ausgezeichnete Objekte, die nicht ganz ins Raster anderer ethnologischer Museen passen, zum Beispiel Zeichnungen aus Kamerun aus den 1960er-Jahren. Ich bin immer noch dabei, sehr viel zu entdecken.

STANDARD: Waren diese Besonderheiten mit ein Grund, warum Sie hierher wechselten?

Fine: Die Wiener Sammlung ist wirklich herausragend. Ein Grund für meinen Wechsel war sicherlich, dass das Haus jetzt inhaltlich gut aufgestellt ist. Es bildet eine wahnsinnig gute Basis für die Weiterentwicklung der Themen, die jetzt im Raum schweben.

STANDARD: Völkerkundemuseen wurden in den letzten Jahren allerorts neu aufgestellt, vor allem auch selbstkritischer in Bezug auf die Kolonialzeit. In Wien war das 2017 der Fall. Ist das aus Ihrer Sicht gelungen?

Fine: Sehr gut gelungen ist, dass man mit dem Kolonialismus sehr offen umgeht. In allen ethnologischen Museen im deutschsprachigen Raum ist das Thema seit Jahrzehnten bereits angekommen, aber nur die wenigsten haben es gewagt, es wirklich offen in der Dauerausstellung anzusprechen. Das Weltmuseum Wien hat jetzt viel Einfluss auf andere Museen, die nachziehen. Gut ist auch, dass man nicht versucht hat, die Geschichte wie in Paris oder Genf zu erzählen, sondern sich auf die Frage konzentriert hat: Was sind die Besonderheiten in Wien und Österreich? Was ist die Geschichte der Ethnologie in Wien? Und man bringt aktuelle Themen in den diskursiven Raum.

STANDARD: Wollen Sie diese Diskursivität im Programm stärken?

Fine: Für mich ist ein Museum eine Abwägung zwischen dem sinnlichen Erleben von Objekten und der Anknüpfung an die brennenden Diskussionen. Wir können diese Museen als Ausgangspunkt für Fragestellungen nutzen, die in reine Kunstmuseen nicht passen würden. Zum Beispiel die Frage: Wie wollen wir uns unsere globale Zukunft vorstellen? Man kann in einem ethnologischen Museum die Welt aus sehr vielen verschiedenen Blickwinkeln erfahren.

STANDARD: Strukturell untersteht das Weltmuseum dem Verband Kunsthistorisches Museum und wurde finanziell mitunter klein gehalten, indem etwa Kuratorenstellen nicht nachbesetzt wurden. Wie viel Autonomie werden Sie einfordern?

Fine: Die erste Frage, die man sich stellen muss, ist: Wie kann sich das Weltmuseum mit anderen Museen gemeinsam um gute Ausstellungen kümmern. Ich glaube, gerade im letzten Jahr hat der KHM-Verband gezeigt, dass man Synergien in der inhaltlichen Arbeit nutzen kann.

STANDARD: Es stört Sie nicht, dass Sie in finanziellen Belangen zunächst zur KHM-Chefin Sabine Haag gehen müssen und nicht direkt mit der Kulturpolitik verhandeln können?

Fine: Man muss ja immer mit anderen Partnern verhandeln. Die Frage ist: Kann und will man mit denen gute Museumsarbeit machen? Und da sage ich: Ja. Ich bin aber noch dabei, mich in die finanziellen Details einzuarbeiten. Wir werden neue Kuratorenstellen ausschreiben. Alle Museen müssen sich auch die Frage stellen, wie wir mit der finanziellen Notlage durch Corona umgehen. Fürs Erste sehe ich keine Schwäche darin, dass wir im KHM-Verband sind.

STANDARD: Sie kommen ja vom Ethnologischen Museum im Berliner Humboldt-Forum, das gerade neu entstanden ist. Das Projekt steht seit Jahren in der Kritik, dass es zu wenig kolonialkritisch sei. Können Sie das nachvollziehen?

Fine: Ich finde die Kritik an den Ausstellungen im Humboldt-Forum ein bisschen übereilt. Sehr viele Leute wissen gar nicht, was dort gezeigt wird. Das Projekt leidet darunter, dass es in einem rekonstruierten preußischen Schloss präsentiert wird. Das erschwert die kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte. In den Ausstellungen werden diese Fragen aber allesamt gestellt.

STANDARD: Als Leiter der ethnologischen Sammlung haben Sie auch das sogenannte Luf-Boot betreut. Zuletzt hat der renommierte Historiker Götz Aly ein Buch darüber geschrieben: "Das Prachtboot – wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten". Darin wird den Museen vorgeworfen, sie hätten jahrzehntelang den mit dem Objekt verbundenen Völkermord an den Bewohnern der Insel Luf verschleiert. Ein harter Vorwurf – was sagen Sie dazu?

Fine: Die Geschichte der Insel Luf ist natürlich eine, die die Kolleginnen und Kollegen im Ethnologischen Museum kannten und auf dem Schirm hatten. Die Frage, wie man das Boot im Zusammenhang mit den äußerst gewaltsamen Vorfällen zu sehen hat, ist aber eine umstrittene. Die Erwerbung des Boots fand 20 Jahre nach der deutschen Strafexpedition statt. Das ist anders als in Namibia, wo man weiß, dass Objekte direkt aus dem genozidären Kontext ins Museum gelangt sind.

STANDARD: Sie sprechen vom "Erwerb" des Luf-Bootes. Götz Aly hat dafür keinen Beleg gefunden. Der Südseehändler Max Thiel hatte bloß notiert, das Boot sei in "seine Hände übergegangen". Sollte man da nicht genau sein?

Fine: Es gibt keinen klaren Beleg für einen Kauf, aber auch keinen klaren Beleg für das Gegenteil. Ich glaube, die zentrale Frage ist: Wie geht man mit diesen Grauzonen um? Museal sollte man das aufgreifen und diskutieren.

STANDARD: Das eine ist, dass die Gräueltaten mit den Objekten miterzählt werden, das andere sind Rückgaben. Sowohl in Berlin als auch hier in Wien haben Sie mit Bronzen aus dem historischen Königreich Benin zu tun, die einst von den Briten geraubt und dann in westliche Museen verkauft wurden. Sie haben sich zuletzt auch für Rückgaben ausgesprochen. Wann und in welchem Umfang?

Fine: Die Diskussion mit der Politik muss jetzt anfangen. Die Frage, was wann und wie zurückgeht, muss jetzt verhandelt werden. Österreich hat Benin nicht überfallen, aber Österreich hat Objekte auf eine Art erworben, die man heute als unethisch betrachten muss. Man darf aber auch sagen, dass das Weltmuseum vor zehn Jahren als Vorreiter in die Diskussion gegangen ist: Damals folgte der großen Benin-Ausstellung der Benin Dialogue mit den nigerianischen Partnern, der bis heute anhält.

STANDARD: Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy hat zuletzt gezeigt, dass die Raubgutdebatte in den 1970er-Jahren schon einmal weit fortgeschritten war, dann aber von den Museen abgewürgt wurde. Teilen Sie den Befund?

Fine: Ich bin da etwas vorsichtig. Man sollte die Fehler der Vorgänger nicht unbedingt als die eigenen ansehen. Wir müssen aber trotzdem heute ethisch mit diesen Fehlern umgehen. Ich bin nicht der Meinung von Savoy, wenn sie meint, dass das, was in den 1960er-Jahren stattgefunden hat, schon eine fundierte Diskussion war. Es waren Forderungen und Wünsche, die die Museen abgeschmettert haben. Die echte Diskussion aber, die führen wir heute. Da zeigt sich im Benin Dialogue zum Beispiel, dass die Fragen oft komplizierter sind, als sie öffentlich dargestellt werden.

STANDARD: Warum ist die Diskussion eigentlich so verkrampft? Ein westliches Museum braucht nicht 15 Bronzen, sondern wahrscheinlich reichen zwei bis drei auch, um das zu zeigen, was man zeigen will. Außerdem gibt es heute sensationell gute Reproduktionen. Braucht man das Original?

Fine: Reproduktionen machen an manchen Stellen wunderbar Sinn, an anderen nicht.

STANDARD: Aber steckt hinter der Abwehrhaltung gegenüber Reproduktionen nicht die westliche Vorstellung vom Wert, der dem Original zugeschrieben wurde? Diesen Wert hatten viele der Objekte ja ursprünglich gar nicht, viele davon waren reine Gebrauchsgegenstände.

Fine: Jede Ausstellung hat einen anderen Ansatz. Für manche hilft es, ein Original zu zeigen. Für andere nicht.

STANDARD: Aber darf die Frage des finanziellen Werts eines Originalobjekts bei der Entscheidung eine Rolle spielen, ob man dieses nach einer Rückgabe durch eine Reproduktion ersetzt oder nicht?

Fine: Österreich beginnt gerade eine Diskussion darüber, wann es angebracht ist, Objekte aus kolonialen Kontexten an die Länder zurückzugeben, aus denen sie stammen. Ich vermute, dass es in dieser Diskussion vor allem um ethische und moralische Fragen gehen wird. Ob finanzielle Erwägungen eine Rolle spielen werden, muss eine Frage sein, die die politische Ebene zu entscheiden hat.

STANDARD: Die Restitutionsdebatte ist eingebettet in einen generellen Diskurs um die Aufarbeitung der Kolonialzeit. Deutschland und Frankreich scheinen dabei williger zu sein, als der angelsächsische Raum oder auch die iberischen Staaten. Wie sehen Sie das?

Fine: In Deutschland ist es eine Frage der Vergangenheitsbewältigung. Im iberischen Raum sind die Verflechtungen mit Lateinamerika noch so stark, dass es keine Frage der Vergangenheit ist, ebenso wenig für Frankreich, das immer noch Kolonien besitzt. Im angelsächsischen Raum ist man gespalten: Man hat eine sehr diverse Gesellschaft, tut sich aber schwer damit, das im Personal und Programm der Institutionen abzubilden. Man kann also gar nicht sagen, wer wem voraus ist, weil sich in allen Ländern sehr unterschiedliche Fragen stellen. In Österreich etwa stellt sich die Frage, wie man mit der indirekten Involvierung in den Kolonialismus und mit der imperialen Herrschaft über Südosteuropa umgeht.

STANDARD: Müsste sich ethnische Diversität nicht auch langsam in der Personalpolitik der Museen widerspiegeln? Noch immer ist der weit überwiegende Teil weiß und an der Spitze häufig männlich.

Fine: Man muss sich fragen: Wie möchte man Ausstellungen machen? Und wie erweitert man dann die Perspektive? Ich fände es zum Beispiel großartig, wenn das Museumskuratorium in Wien aus allen möglichen Ländern zusammengesetzt ist. Dazu braucht es aber ein Commitment über Jahre, das wird nicht schnell erledigt sein. Klar ist aber: Ein Museum, das Vielstimmigkeit beansprucht, braucht auch vielstimmige Personalpolitik. Das werden wir versuchen zu berücksichtigen.

STANDARD: Wenn die westlichen Gesellschaften ethnisch diverser und zugleich historisch aufgeklärter werden: Was können und sollen zeitgemäße Völkerkundemuseen da leisten?

Fine: Der Kolonialismus prägt unsere Welt. Unsere heutige Welt nimmt ihren Ausgang im Kolonialismus des 15. Jahrhunderts. Das ist sicher die größte Diskussion, die das Weltmuseum in den kommenden Jahren führen wird. Aber zu oft wird heute Kolonialismus als Problem der Museen behandelt und nicht etwa als eines der Wirtschaft. Mein Wunsch wäre, dass Museen nicht als das Problem gesehen werden, sondern als Forum dafür, wo die kolonialen Probleme besprochen werden und wo man über Lösungen nachdenkt. Ich glaube auch nicht, dass wir uns als historisches Museum positionieren sollten, sondern als gegenwärtiges. In dem Moment nämlich, wo sich ein ethnologisches Museum als historisch versteht, stirbt es. (Stefan Weiss, 28.7.2021)