"Ich will nicht, dass diese Afghanen jetzt alle in die Türkei kommen. Wir haben schon genug islamistische Syrer hier, da brauchen wir nicht auch noch die afghanischen Mullahs." Die Frau, die sich furchtbar aufregt, als sich das Gespräch der Situation an der iranisch-türkischen Grenze zuwendet, will nicht namentlich genannt werden, aber ihre Botschaft ist klar: "Keine weiteren Flüchtlinge mehr, schon gar nicht aus dem Taliban-Land."

Auch der Einwand, dass die Leute doch vor den Taliban fliehen würden, zieht nicht. Sie hat Bilder im Fernsehen gesehen: "Das sind alles junge Männer, keine Familien mit einem Koffer in der Hand."

Tatsächlich kommen derzeit jeden Tag mehrere hundert afghanische Flüchtlinge über den Iran illegal in die Türkei. Menschenrechtler in Istanbul sprechen sogar von bis zu 1.000 am Tag, doch genau weiß es niemand, denn die meisten verschwinden gleich. Wer erwischt wird, wird zurückgeschickt. Allein in der vergangenen Woche wurden 1.456 afghanische Flüchtlinge an der Grenze aufgegriffen. Einige kommen in ein Camp in der Nähe von Van, doch die meisten werden umgehend ausgewiesen.

Täglich kommen mehrere hundert Afghanen aus dem Iran in die Türkei.
Foto: EPA/Suna

Veränderung in Städten

Die deutliche Mehrheit der türkischen Bevölkerung will nicht noch mehr Flüchtlinge, schon gar nicht aus einem islamischen Land wie Afghanistan. Schon jetzt haben fast vier Millionen syrische Flüchtlinge die religiöse Balance in vielen Städten entlang der syrisch-türkischen Grenze und in vielen Stadtteilen von Istanbul dramatisch verändert.

Für die säkularen Türken sind schon die Flüchtlinge aus Syrien Präsident Tayyip Erdoğans "fünfte Kolonne", um die Islamisierung der Türkei voranzutreiben. Die meisten befürchten, dass sich dieser Trend mit den afghanischen Flüchtlingen noch verstärken würde. Seit die Wirtschaftskrise in der Türkei immer schlimmer wird, sind aber auch Erdoğans Wähler deutlich auf Distanz zu den Flüchtlingen gegangen.

Bis zu eine halbe Million Afghaninnen und Afghanen soll bereits in der Türkei sein. Sie leben illegal im Land, im Gegensatz zu den syrischen Flüchtlingen bekommen sie keinen Aufenthaltsstatus.

Mauerbau

Erdoğan lässt derweil die Grenztruppen zum Iran verstärken, an einigen Stellen ist bereits eine Mauer gebaut worden. Das Letzte, was der Präsident angesichts seiner fallenden Zustimmungswerte gebrauchen kann, sind Flüchtlinge.

Erbost kritisieren gerade oppositionelle Medien den Versuch der EU, die bislang für die syrischen Flüchtlinge geleistete finanzielle Hilfe zukünftig auch auf solche aus Afghanistan auszudehnen. Mit neuen drei Milliarden Euro will die EU ihre "schmutzige Flüchtlingspolitik" fortsetzen, kommentierte die Cumhuriyet. Eser Karakaş, Autor des oppositionellen Nachrichtenportals Arti Gercek, schrieb, mit ihrem Versuch, die Türkei in ein Camp vor Europa zu machen, werde das Land "gedemütigt" wie nie zuvor.

Erst vor kurzem hat Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) in einem Interview klargestellt, dass er keine afghanischen Flüchtlinge haben will. Die Türkei sei als "Nachbarstaat definitiv der richtige Ort" für sie, sagte er. Die Häme über den geografischen Fauxpas ließ nicht lange auf sich warten. In sozialen Medien tauchte etwa eine Karte auf, die zeigt, dass die Türkei näher an Österreich als an Afghanistan liegt. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 28.7.2021)