Die Pride-Parade in Budapest am vergangenen Wochenende war ein eindrucksvolles Zeichen gegen die LGBTIQ-feindliche Politik Viktor Orbáns.

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Kristina Stoeckl beforscht rechtskonservative Netzwerke.

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Im Juni wurde in Ungarn ein Gesetz beschlossen, das die Darstellung von Homosexualität und Transidentität als normalen Teil der Gesellschaft in der Werbung verbietet. Bücher, die LGBTQI-Themen behandeln, müssen mit Hinweisen versehen werden, dass sie nicht für unter 18-Jährige geeignet sind, Filme dürfen nicht vor der Hauptsendezeit ausgestrahlt werden. Kristina Stoeckl erforscht rechtskonservative, transnationale Netzwerke und hat sich angesehen, warum rechtsnationalen Parteien der Kampf gegen Genderrechte so wichtig ist.

STANDARD: Warum gibt es derzeit diesen starken Fokus gegen Genderrechte in Ungarn oder auch Polen? Vor kurzem wurden die Gender Studies aus den ungarischen Universitäten verbannt, und nun das LGBTQI-Gesetz?

Stoeckl: Dieses Gesetz ist eine gezielte Provokation. Es war zu erwarten, wie die EU darauf reagieren wird. Mit so einem Gesetz will Viktor Orbán Europa vorführen und demonstrieren, dass er ein ideologischer Gegner der liberalen Demokratie ist.

STANDARD: Es geht ihm also gar nicht um eine moralische Position, etwa traditionelle Geschlechterrollen "schützen" zu wollen?

Stoeckl: Nein, es geht vielmehr um Regimeerhalt – und zwar in einem Land, in dem es die Menschen grundsätzlich gut finden, dass sie bei der EU sind, dass Demokratie herrscht und sie nach Jahrzehnten des Kommunismus in der westlichen Welt angekommen sind. Wenn man sich die Wertestudien ansieht, zeigt sich, dass unter den Jungen 65 Prozent sagen, dass Homosexualität von der Gesellschaft akzeptiert werden soll. Das ist zwar weniger als etwa in Deutschland, trotzdem ist es rein inhaltlich nicht erklärbar, warum diese Karte so stark gespielt wird.

Wogegen sich Regierungen wie in Ungarn oder Polen wenden, ist die Öffnung des nationalen Rechtsraums hin zu einer transnationalen Rechtsprechung und internationalen Menschenrechtsnormen. Dazu zählt auch das Diskriminierungsverbot auf Basis von sexueller Orientierung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und die EU haben bisher nicht gezögert, in nationale Rechtsprechungen einzugreifen, die gegen die Anti-Diskriminierungsrichtlinie verstoßen. Das trifft auch immer wieder Österreich, etwa beim Ausschluss von gleichgeschlechtlichen Paaren von der Eheschließung. Die EU-Mitglieder sind bestimmten Kriterien verpflichtet.

STANDARD: Warum argumentieren rechte Politiker, dass das Zurückdrängen von LGBTQI-Rechten auch im Sinne des Schutzes von Kindern sei?

Stoeckl: Wir dürfen nicht vergessen, dass das bis in 1980er-Jahre in den meisten Ländern die Mehrheitsmeinung war. In Österreich gab bis 1981 ein Werbeverbot für homosexuelle Inhalte im öffentlichen Raum. Seit 30 Jahren erleben wir aber, dass vielerorts Rechte auf Basis von sexueller Orientierung verankert werden. Diese Entwicklung hat nicht nur stattgefunden, weil sich die Gesellschaften verändern, sondern auch durch Aktivisten, konkret LGBTQI-Gruppen, die es geschafft haben, Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung zu thematisieren und in den Rechtsprozess zu bringen. Gegen die Erfolge dieser Bewegung formiert sich Widerstand von rechter Seite. Es ist wichtig festzuhalten, dass es sich dabei um eine doppelte Reaktion handelt: eine konservative Reaktion gegen die Veränderung und Pluralisierung der Gesellschaft sowie eine nationalistische Reaktion gegenüber staatliche Rechtsnormen.

STANDARD: Orbán hat jetzt ein Referendum angekündigt. Er will die Bevölkerung über das geplante Gesetz abstimmen lassen.

Stoeckl: Mit dem Referendum setzt Orbán seine Idee von der "illiberalen Demokratie" durch. Hinter dem Begriff steht ein populistisches Demokratieverständnis: Die Mehrheit soll in einem Land diskriminieren können, wen sie will. Eine liberale Demokratie hingegen hat kraft einer Verfassung und überstaatlicher menschenrechtlicher Verträge Mechanismen eingebaut, die die Unterdrückung von Minderheiten durch die Mehrheit erschwert.

STANDARD: In welchem Verhältnis steht Orbáns Politik zu den moralkonservativen Netzwerken, die Sie erforschen?

Stoeckl: Orbán bedient die Themen der globalen Rechten so wie Bolsonaro in Brasilien, Putin in Russland und bis vor kurzem Trump in den USA. Die Gegnerschaft zu Genderrechten ist ein Instrument, das die transnationalen moralkonservativen Netzwerke eint. In den USA wird Orbán in rechtskonservativen Medien wegen seinem LGBTQI-Gesetz übrigens gerade sehr gefeiert. Derzeit findet in den USA eine Debatte über den Equality Act statt, ein Gesetzesvorhaben, das zu einer größeren rechtlichen Anerkennung von Genderrechten führen soll und das mit Präsident Joe Biden Chancen auf Umsetzung hat. In ihrem Kampf gegen den Equality Act, der als Angriff auf die Religionsfreiheit interpretiert wird, feiert die amerikanische christliche Rechte Orbáns Gesetz als "wake-up call" – dass sich Ungarn traut, gegen Genderrechte aufzustehen! In den rechten, konservativen Medien wird die Geschichte erzählt, dass die EU zu einem liberalen totalitären Regime geworden ist, das die natürliche Familie zerstört, und Orbán der ist, der dieses Komplott durchbrechen kann.

STANDARD: Unterschätzen wir diese rechtskonservativen transnationalen Netzwerke?

Stoeckl: Es gibt inzwischen schon viele Berichte und auch Forschung über diese Organisationen, ihre Finanzströme, ihre Verbindungen zu Russland. Transnational organisierte moralkonservative Gruppen wie die Internetplattform CitizenGo.org, der World Congress of Families oder die Agenda Europa sind grundsätzlich zivilgesellschaftliche Organisationen. Sie reichen zwar in die Kirchen oder in Parteien hinein, werden aber nicht von ihnen organisiert oder finanziert. Diese Netzwerke haben sehr viel von der christlichen Rechten in den USA gelernt. Wie man strategisch Klagen einreicht und mit diesen bis zum EGMR vordringt, wie man Referenda dafür einsetzt, um Minderheitenrechte einzuschränken, und wie man Themen strategisch rahmt, damit sie auch eine Wählerschaft ansprechen, die nicht notgedrungen christlich-konservativ ist.

STANDARD: Was hat es mit der häufig bemühten Erzählung auf sich, Minderheitenrechte würden zunehmend die Mehrheit knebeln?

Stoeckl: In den aktuellen Debatten werden oft der Kommunismus und die EU gleichgestellt. Das mag absurd klingen, aber es ist meines Erachtens wichtig, dass wir diesen paradoxen Vergleich verstehen. Die kommunistischen Revolutionäre zielten auf die traditionelle Familie und Religion ab. Kinder sollten in staatliche Erziehung, Frauen arbeiten, und ganz radikale Projekte in Russland in den 1920er-Jahren hatten überhaupt die Auflösung von Familienhaushalten zum Ziel. Die kommunistische Internationale übte darüber hinaus früh transnationale Solidarität. Wenn die EU heute auf Genderrechte pocht oder Solidarität bei der Verteilung von Flüchtlingen einfordert, dann wird sie von den Rechten als Wiedergänger des Kommunismus dargestellt. Pikanterweise steht Russland unter Putin in diesem Geschichtsbild auf der Seite der rechten Verteidiger von Nationalstaat, Souveränität und konservativen Familienwerten. Diese rechtskonservative Erzählung, die Orbán vertritt, die die polnische PiS-Partei und viele andere rechte Partien vertreten, dreht die ideologische Geschichte des 20. Jahrhunderts um.

STANDARD: Kann die EU dieser Erzählung etwas entgegensetzen?

Stoeckl: Das Wiederaufleben der ideologischen Kategorien des 20. Jahrhunderts ist fatal und birgt das Risiko einer Eskalation, wie im Fall der aktuellen Debatte um Genderrechte in Ungarn. Die EU als politisches Projekt ist als Antwort auf die ideologische Konfrontation zwischen Kommunismus und Kapitalismus entstanden. Die Gründerväter der EU hatten das Ziel, Solidarität und freie Marktwirtschaft, also Gleichheit und Freiheit, zusammenbringen. Dieser Auftrag gilt immer noch und bedarf ständiger Aushandlungsprozesse. Wenn Orbán die EU ob ihres Bemühens um Gleichstellung als totalitäres Regime hinstellt, ignoriert er bewusst, dass Ungarn von diesem Bekenntnis zu Gleichheit und Solidarität in Form von Subventionen profitiert. Die rechte Darstellung, dass Solidarität und Rechte für Minderheiten die Mehrheit knebeln, ist falsch. Die EU muss sich dagegen wehren, dass rechte Politiker Gleichheit und Freiheit gegeneinander ausspielen, um daraus einen politischen Vorteil zu ziehen. (Beate Hausbichler, 28.7.2021)