Kürzlich wurde ich gefragt, ob ich glücklich sei. Diese Frage versetzte mich in Verlegenheit. Wir fragen einander oft "Wie geht es dir?" oder "Wie geht es Ihnen?" – doch das ist etwas anderes. Meistens handelt es sich um eine Höflichkeitsfloskel, die von vornherein keine negative Antwort zulässt. Reflexhaft kommt das "Danke, gut. Und dir/Ihnen?" von unseren Lippen, selbst wenn wir uns nicht besonders gut oder sogar elend fühlen. Natürlich kann die erwartete positive Antwort auch der Wahrheit entsprechen. Dies rechtfertigt aber keineswegs den Schluss, die antwortende Person sei also glücklich. Glück – das scheint etwas Tieferes, etwas Umfassenderes zu sein als der Umstand, dass es einem gerade gut geht.

Wir Menschen streben nach Glück, wusste schon Aristoteles. Doch was bedeutet es eigentlich, glücklich zu sein? In der abendländischen Philosophie wurde diese Frage traditionell – und diese Tradition beginnt in der Antike – im Zusammenhang mit der Frage nach dem guten Leben behandelt: Wie gelingt mein Leben? Die Annahme war, dass ein gutes, gelingendes Leben auch ein glückliches Leben sei.

Tugendethik: Kein Glück ohne Moral

Doch bereits in der Antike gab es sehr unterschiedliche Ansichten darüber, was zu einem gelingenden Leben gehört. Eine sehr wichtige, die Geschichte der Philosophie nachhaltig prägende Strömung lehrte, dass ein gelingendes Leben ein tugendhaftes Leben sei, dass also Tugend zur Glückseligkeit (eudaimonia) führe. Diese Strömung, für die Namen wie Platon und Aristoteles stehen, ist heute als Tugendethik bekannt. Warum Ethik? Weil hier das persönliche Glück des Einzelnen an die Bedingung ethisch sittlichen Handelns geknüpft wird, an die Verwirklichung von Tugenden wie Tapferkeit, Gerechtigkeit oder Besonnenheit. Kein Glück ohne Moral. Bei Aristoteles verbindet sich dies mit der Annahme, dass der Mensch, um glücklich zu sein, seine doppelte Bestimmung als Vernunft- und Gemeinschaftswesen zu verwirklichen hat. Die Tugenden, auf die es ankommt, sind rationale Tugenden und haben ihre Gültigkeit im Kontext des antiken Stadtstaats (polis).

Glück und das gute Leben gehören zusammen, so die abendländische Philosophie.
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Hedonismus: Lustvoll leben

Eine andere Strömung hingegen sagt, dass Glück im Erleben von Lust und in der Vermeidung von Schmerz bestehe. Dies ist die Lehre von Aristippos von Kyrene und Epikur, die man heute als eine Form des Hedonismus klassifiziert. Ein gelingendes Leben ist demnach ein lustvolles Leben, wobei Lust hier ausdrücklich körperliche Lust umfasst. Entgegen verbreiteten Vorurteilen schließt die Betonung der Lust Tugendhaftigkeit nicht aus. Ganz im Gegenteil, Epikur entwickelt so etwas wie eine hedonistische Tugendlehre, die sogar asketische Elemente enthält: Mittels der Vernunft sollen wir unser Verlangen mäßigen und auf die Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse beschränken. Oft bedeutet dies den Verzicht auf eine Lust um einer anderen, höherwertigen Lust willen.

Freilich sind Epikurs Tugenden nicht die rationalen Tugenden, die von Platon und Aristoteles als sogenanntes höchstes Gut propagiert wurden. Tugend hat sich an ihrem Beitrag zur Steigerung der Lust zu messen: "Man ehre die Tugend", sagt Epikur, "wenn sie zum Glück beiträgt; wenn nicht, gebe man ihr den Abschied." Und: "Ich weiß nicht, was ich noch das Gute nennen soll, wenn ich die Lust des Geschmacks, die Lust der Liebe, die Lust des Ohres sowie den Reiz beim Anblick einer schönen Gestalt beseitige."

Pflichtethik: Moralprinzip kontra Lustprinzip

Der antike Gegensatz zwischen Moralprinzip und Lustprinzip verschärft sich im weiteren Verlauf der Philosophiegeschichte unter dem Einfluss des Christentums und ist bis heute bestimmend geblieben für das philosophische Nachdenken über Glück. So lehrte der Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant das moralische Handeln nicht aus Neigung, sondern allein aus Pflicht, um die Moral vor etwaiger Verunreinigung durch Lust zu bewahren. Anders als in der antiken Tugendethik, der zufolge gute Handlungen dem guten Menschen Vergnügen bereiten, steht in Kants Pflichtethik solches Vergnügen in dem Verdacht, die Moralität des moralischen Handelns zu mindern.

Daraus ergibt sich nun aber ein Problem: Moral kann Glück nicht garantieren, obschon letzteres doch verdient wäre! Kants Ausweg ist Gott: Gott wird den im Diesseits allein aus Pflicht sittlich Handelnden im Jenseits mit Glück belohnen. Das ist ganz christlich – christlich und mittelalterlich – gedacht. Kant entfernt die Lust aus der Moral und läuft darüber Gefahr, auch des Glücks verlustig zu gehen. Vor die Wahl zwischen Moral und Glück gestellt, entscheidet er sich für erstere.

Glück ohne Moral?

Hiergegen rebelliert dann jemand wie Nietzsche. Die Moral – die herrschende christliche Moral – ist, so Nietzsche, ein Feind des Glücks, indem sie die natürlichen und gesunden Triebe des Lebens, einschließlich des Strebens nach sinnlicher Lust, unterdrückt beziehungsweise als böse verachtet. Nietzsches Antwort ist die Vision des glücklichen Übermenschen, dessen Wille zur Macht seine eigenen Werte setzt. Das Glück des Übermenschen ist radikal frei und radikal exzessiv – im Gegensatz zum kleinen Glück des Bürgers oder Arbeiters, um dessen Maximierung sich die englischen Utilitaristen bemühten und das Nietzsche mit der bekannten Sentenz verspottet: "Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer tut es."

Wir müssen aber vielleicht nicht so weit gehen wie Nietzsche, um der Idee eines vom Begriff der Moral unabhängigen Begriffs von Glück etwas abzugewinnen. So viel scheint richtig zu sein: Wenn Sie gefragt werden, ob Sie glücklich sind, werden Sie dies kaum als Frage nach Ihrem tugendhaften Lebenswandel verstehen. Ihre Überlegungen auf der Suche nach der passenden Antwort werden sich eher darum drehen, ob Ihr Leben – im Großen und Ganzen – Ihren persönlichen Wünschen und Vorstellungen entspricht, ob Sie Ziele, die Sie sich gesetzt haben, erreicht haben und ob Sie von schwereren Schicksalsschlägen verschont geblieben sind. Diese Überlegungen lassen sich durchaus der antiken Idee eines gelingenden Lebens zuordnen, jedoch ohne die traditionellen starken moralischen Implikationen. Ein subjektiv als gelungen beurteiltes Leben mag gleichzeitig auch gut sein im moralischen Sinne; zumindest in unserem Kulturkreis ist es heute aber eher unwahrscheinlich, dass ein Leben als gelungen beurteilt wird, nur weil es – subjektiv und/oder objektiv – als moralisch gut erscheint.

Glück durch Bedeutung

Ein weiterer Aspekt findet in neueren philosophischen Diskussionen zunehmend Beachtung. Es ist durchaus möglich, dass Sie schwere Schicksalsschläge haben erleben oder ein entbehrungsreiches Leben führen müssen und sich gleichwohl als glücklich einschätzen, nämlich weil Ihnen Ihr Leben – den schwierigen Umständen zum Trotz – bedeutungsvoll erscheint. Dies kann aus unterschiedlichsten Gründen der Fall sein. Vielleicht gehen Sie einer als bedeutungsvoll erlebten Tätigkeit nach, etwa wenn Sie als Pflegekraft kranken Menschen helfen oder als Künstlerin, Künstler andere Menschen inspirieren. Vielleicht ist oder war es Ihnen auch vergönnt, in für Sie bedeutungsvollen zwischenmenschlichen Beziehungen zu leben, in Partnerschaft, Familie oder Freundschaft.

Der Begriff der Bedeutung verweist hier jeweils auf ein Werturteil, nach welchem das eigene individuelle Leben als lebenswert erachtet wird, obwohl dieses mit Unglück vertraut und (vermutlich) kein Teil eines übergeordneten (göttlichen) Plans ist. Inwieweit solche subjektiven Konzeptionen der Bedeutung (meaning in life) traditionelle religiöse oder metaphysische Theorien objektiver Bedeutung (meaning of life) ersetzen können, ist umstritten. Können oder sollten wir aufhören, das Gesamtgefüge des Universums und den Platz des Menschen darin verstehen zu wollen? Wie auch immer wir diese Frage beantworten wollen, es zeichnet sich ein Begriff von Glück ab, der über ein momentanes Sichgutfühlen hinausgeht, ohne dabei mit moralischen Normen zusammenzufallen. (Anne Sophie Meincke, 4.8.2021)