"Holt euch eure Freiheit zurück!", rief Nena ihren Fans zu. Die Sängerin erntete für ihr Verhalten harsche Kritik.

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Im Jahr zwei der Corona-Pandemie hat sich verständlicherweise viel Frust aufgestaut, gerade bei jenen, die üblicherweise von Berufs wegen dazu auserkoren sind, die anderen vom Frust im kathartischen Sinn zu befreien: Künstler. Das Publikum, also jener Teil, der seinen Frust üblicherweise bei den Künstlern abladen darf, sitzt in diesem wechselseitigen Geben und Nehmen, wie es seit den Tagen des alten Dionysos-Theaters funktioniert, mit im Boot.

Diese gewissermaßen selbstverständliche Beziehung ist nun aber brüchig geworden, seit sich immer mehr Künstler, wie es den Anschein hat, dazu hinreißen lassen, Covid-Schutzmaßnahmen zu negieren, die Gefährlichkeit der Pandemie herunterzuspielen oder ihrer Impfskepsis Ausdruck zu verleihen.

Zuletzt erntete Nena, Deutschlands Popikone schlechthin, nicht nur Beifall, sondern auch einen veritablen Shitstorm, weil sie bei einem ihrer Konzerte am Rande Berlins all das hat durchblicken lassen. Sie forderte die 1000 in Sicherheitsboxen zu kleinen Grüppchen verteilten Konzertbesucher auf, ihre Kojen zu verlassen und ganz wie früher dicht aneinandergekuschelt vor der Bühne zu tanzen. Sie lege das in die Eigenverantwortung, genauso, wie jeder selbst entscheiden könne, ob er sich impfen lasse oder nicht. Und setzte pathetisch nach: "Holt euch eure Freiheit zurück!"

Keine Lust auf Strandkorb

Nahezu zeitgleich hatte Nenas Bühnenkollege Helge Schneider ein ähnliches "Strandkorbkonzert" abgebrochen, weil es ihm atmosphärisch keinen Spaß gemacht hatte. Und schließlich machte noch die Meldung von Eric Clapton die Runde, der verlautbarte, keine Konzerte zu geben, wenn Ungeimpfte davon ausgesperrt würden.

Hierzulande hat Schauspielerin Nina Proll sich prominent in die Maßnahmen-Skeptiker-Rolle begeben. Sie sprang nicht nur sogleich Nena zustimmend bei, sondern ist auch Mitbetreiberin der Florestan-Initiative, die gegen das zeitweilige De-facto-Berufsverbot für körpernah tätige Künstlerinnen und Künstler vor dem Verfassungsgericht klagt.

Was also treibt sie an, die Kreativen, die jetzt ihr Wort erheben? Zunächst sollte man vielleicht festhalten, dass der Eindruck, gerade oder ausgerechnet Künstler würden sich nun an die vorderste Front der Corona-Skeptiker stellen, täuscht. Sie sind wohl nicht mehr oder weniger skeptisch als der Rest der Bevölkerung. Und man darf nicht negieren, dass abertausende Kulturschaffende in Sorge um ihre eigene Gesundheit und der des Publikums die Schutzmaßnahmen äußerst gewissenhaft mittragen.

Klar ist, dass viele Künstler es gewohnt sind, in der Öffentlichkeit zu stehen. Und jene, die die medialen Mittel zur Verfügung haben, sind es auch gewohnt, das Wort zu erheben, wann immer ihnen danach ist. In normalen Zeiten fordern Publikum, Medien und Politiker derartige Wortmeldungen sogar ein. Da ist nicht verwunderlich, dass aktuell auch Dinge gesagt werden, die einem bestimmten Common Sense widerstreben. Andererseits ist mit der Vorbildwirkung, die in der Öffentlichkeit Stehende haben, wohl mehr denn je sorgsam umzugehen.

Einen Shitstorm mag das Verhalten mancher Künstler dennoch nicht rechtfertigen – denn tatsächlich kann Nena und Co ja in einem Punkt beigepflichtet werden: dass ernsthaft danach zu fragen wäre, ob einer liberalen Gesellschaft, die nunmehr über wirksame Impfstoffe und hohe Immunitätsraten unter den Schutzbedürftigsten verfüge, nicht wirklich mehr Eigenverantwortung zuzumuten wäre?

Kultur des Regelbruchs

Unabhängig davon, ob man sich nun für Strandkorbkonzerte begeistern will oder nicht: Wurde nicht mit der breitflächig im Kulturbetrieb eingesetzten Drei-G-Regel eine Möglichkeit geschaffen, die das Schutzbedürfnis mit einem unvermeidlichen Restrisiko bei einem gesunden Maß an Eigenverantwortung vernünftig in Einklang bringt?

Die Vernunft führt zum letzten und vielleicht zentralen Aspekt, der in der Diskussion um streitbare Äußerungen der Künstler wichtig ist: Friedrich Schiller und sogar Vernunftpapst Immanuel Kant begriffen den Beruf des Künstlers als notwendiges Gegenstück zur reinen Rationalität der Wissenschaften.

Die Geschichte der Kunst, genauer der modernen Kunst und noch stärker nach den gesellschaftlichen Umbrüchen von 1968, ist eine des Regelbruchs, der Grenzüberschreitung, nicht der Grenzziehung. Man kann davon ausgehen, dass selbst kunsttheoretisch unbedarfte Kulturschaffende der Gegenwart diese Haltung verinnerlicht haben. Und dass der plötzliche Rollenwechsel, den die Pandemie eigentlich erforderte, Nena und Co schwerfällt.

Vielleicht gilt es, das vor Augen zu haben, bevor jedes "Out of the box"-Denken, das von Künstlern immerzu eingefordert wird, unter den komplexen Bedingungen einer Pandemie allzu rasch zum verpönten "Querdenken" degradiert wird. (Stefan Weiss, 29.7.2021)