Aus dem Titeljäger wurde der Herausforderer.

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Hamilton vs. Verstappen.

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Vor dem Grand Prix von Ungarn ist für Donnerstag eine Anhörung zum Silverstone-Crash zwischen Lewis Hamilton und Max Verstappen angesetzt. Red Bull hofft auf eine härtere Strafe für den Weltmeister, der das Rennen gewann, während der WM-Führende ausschied. Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff wagt zum Ausgang keine Prognose.

STANDARD: Red Bull war nach Silverstone aufgebracht. Teamchef Chris Horner sah eine Verzweiflungstat Hamiltons. Er hätte so einen "amateurhaften Fehler" nicht erwartet. Zu Recht?

Wolff: Es ist fragwürdig, ob Teammanager einen siebenfachen Weltmeister belehren sollen. Hamilton weiß wohl am besten, ob er in einer Kurve überholen kann oder nicht.

STANDARD: Wie tief sind die Gräben zwischen Mercedes und Red Bull?

Wolff: Wir haben siebenmal in Folge die Weltmeisterschaft gewonnen. Der Drang, unseren Lauf zu stoppen, ist bei der Konkurrenz sehr groß. Red Bull ist mit Enthusiasmus bei der Sache. Die Kommunikationsmuster fallen mitunter hysterisch aus. Es gibt nur Schwarz und Weiß, nichts in der Mitte.

STANDARD: Sie sind öfters Ziel der Kritik, wirken aber relativ gelassen.

Wolff: Jeder wie er kann, jeder wie er will. Mitunter geht es ins Persönliche, das juckt mich nicht. Ich bin emotional, aber nicht aufgeregt. Da möchte ich mir treu bleiben.

STANDARD: Horner moniert, dass Sie während des Grand Prix die Rennkommissare aufgesucht haben. Sollten Sie die Regelhüter nicht tatsächlich in Ruhe arbeiten lassen?

Wolff: In diesem Fall hat mich der Rennleiter explizit auf die Rennkommissare verwiesen. Das war im Boxenfunk für jeden zu hören. Erst nach Silverstone wurden die Regeln verschärft.

STANDARD: Sie hatten Rennleiter Michael Masi während des Rennens eine E-Mail geschickt. Er hatte keine Zeit, sie zu lesen. Das hat für Amüsement gesorgt. Machen Sie das öfters? Probieren Sie es das nächste Mal per Whatsapp?

Wolff: Ich habe die offiziellen Diagramme für die Überholrichtlinien in der Kurve geschickt. Darauf wollte ich hinweisen. Zu sehen ist ein Entscheidungsbaum – mit grünen Autos, die überholen, und roten Autos, die überholt werden. Die Strafe stand im Kontrast zum Dokument. Aber es gibt eben das Ermessen der Kommissare.

STANDARD: Verstappen hat Hamilton das euphorische Feiern des Sieges in Silverstone vorgeworfen. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?

Wolff: Aus seiner Perspektive natürlich. Aber man muss auch die andere Perspektive sehen. Wir hatten zuvor fünf Rennen in Folge nicht gewonnen, und dann gewinnt Hamilton den britischen Grand Prix. Das ist ein Grund zur Freude. Es gab keine Information, dass es Verstappen nicht gut gehen würde. Im Gegenteil, es hieß, er sei unverletzt. Und so war es dann ja auch.

STANDARD: Trotzdem fiel Hamiltons Jubel auffallend groß aus. Warum?

Wolff: Weil der Sieg vor seinen eigenen Fans hart erkämpft war. Der Crash hat auch ihn belastet, er musste eine Zehn-Sekunden-Strafe absitzen. Das waren schwierige Voraussetzungen. Wir waren zuletzt nicht konkurrenzfähig. Silverstone war die Bestätigung, dass unser Auto funktioniert. Dass wir in dieser Saison noch um die Weltmeisterschaft fahren können.

STANDARD: Man sagt, Hamilton müsse nun mehr riskieren, weil er nicht mehr im schnellsten Auto sitzt. Ist das korrekt?

Wolff: Es gibt einen Grund, warum Lewis Hamilton fast 100 Rennen gewonnen hat. Er beweist große Maturität im Auto. Er verhindert Kollisionen, um zu punkten. In Silverstone ist es zum Unfall gekommen, weil keiner der beiden Piloten zurückgezogen hat. Das wird vielleicht auch in den kommenden Rennen das Muster werden.

STANDARD: Sehen Sie Mercedes noch als Titelverteidiger oder bereits eher als Herausforderer von Titelfavorit Red Bull?

Wolff: Wir sind bereits seit Beginn der Saison Herausforderer. Weil unsere Performance nicht so gut ist wie jene von Red Bull. Das sieht man schwarz auf weiß auf der Stoppuhr – und die sagt immer die Wahrheit. Wir versuchen, den Rückstand aufzuholen, um im Spiel zu bleiben.

STANDARD: Seit Sie das Amt des Teamchefs übernommen haben, war Mercedes immer Weltmeister. Sie kennen die Formel 1 nur aus der Führungsposition. Können Sie sich mit der neuen Rolle des Herausforderers auch anfreunden?

Wolff: Ich war drei Jahre Miteigentümer von Williams. Damals haben wir um Platz fünf gekämpft, konnten einen einzigen Sieg feiern. Ich bin mit der Perspektive der kleineren Teams vertraut. Ich weiß, wie sich eine Niederlage anfühlt. Das ist ein wichtiger Faktor für meine Arbeit. Wir sagen: Die Tage, an denen wir verlieren, sind die Tage, die unsere Mitbewerber bereuen werden. An diesen Tagen lernen wir am meisten.

STANDARD: Sie sind nicht nur Teamchef, sondern auch Miteigentümer. Dieser harte Zweikampf um die Weltmeisterschaft muss Ihnen doch aus dieser Warte gefallen?

Wolff: Als Teamchef zählt für mich nur die Performance. Der Sieg ist die Grundlage für alles Weitere. Als Team-Miteigentürmer ist mir die wirtschaftliche Entwicklung der Formel 1 wichtig. Und so eine heiß umkämpfte Meisterschaft bietet viel Content – das ist gut fürs Geschäft.

STANDARD: Ist der ein oder andere Unfall auch gut fürs Geschäft?

Wolff: Wir wollen Unfälle mit Konsequenzen um jeden Preis vermeiden. Die Piloten sind Menschen, Söhne, Väter, Freunde. Die muss man schützen. Aber die Autos bewegen sich nun einmal jenseits der 300 Stundenkilometer, und Unfälle wird es immer geben. Zum Glück enden sie heute mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ohne gravierende Verletzungen. Aber gefährlich ist der Sport nach wie vor.

STANDARD: Es gab Zeiten in der Formel 1, da wäre der Unfall von Silverstone ohne Wenn und Aber als Rennunfall bezeichnet worden. Ist der Sport mittlerweile überreglementiert?

Wolff: Wir müssen Regeln haben. In vielen Situationen brauchen die Stewards eine Entscheidungsgrundlage. Sie müssen auf Präzedenzfälle zurückgreifen können. Wir sind vor 60 Jahren auch ohne Gurt gefahren, haben im Auto geraucht. Man kann das Rad der Zeit nicht zurückdrehen. Das ist auch besser so.

STANDARD: Hamilton hat achtmal in Ungarn gewonnen. Zuletzt dreimal in Folge. Die Strecke liegt ihm so wie jede andere. Wie ist Ihr Ausblick?

Wolff: Ich sehe Red Bull in puncto Pace im Vorteil. Der Hungaroring ist für uns nicht ideal. In 180-Grad-Kurven ist unser Auto nicht ganz glücklich. Aber es geht nicht nur um die Performance des Autos, sondern auch um die Strategie. Wir lassen uns etwas einfallen.

STANDARD: Es gab zuletzt rassistische Beleidigungen gegen Hamilton. Was läuft da falsch? Bestärkt Sie das, als Team noch vehementer gegen Diskriminierung aufzutreten?

Wolff: Lewis hat mir einmal erzählt, dass er schon als Kind rassistisch beleidigt wurde. Es ist widerlich, dass Menschen so archaische Instinkte haben. Dass sie sich für ihren Rassismus hinter anonymen Accounts verstecken. Vielen fehlt das Verständnis, was Diskriminierung bedeutet. Es fehlt ihnen die intellektuelle und emotionale Fähigkeit, sich in die Lage eines anderen zu versetzen. (Philip Bauer, 29.7.2021)

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