Noch ist es kein Massenprotest gegen eine Lobauautobahn, aber das kann sich rasch ändern.

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Wien – In der Hitze eines hochemotional geführten Gefechts um den Regionenring können Zahlen schon einmal durcheinanderkommen. Man kann aber auch das Opportune aus beiden Welten nehmen, wie dies der ÖAMTC soeben gemacht hat. Von 77.000 Fahrzeugen pro Tag berichtete der Autofahrerklub, die weniger auf der Südosttangente (A23) fahren würden, wenn denn die Wiener Außenring-Schnellstraße (S1) samt dem umstrittenen Tunnel unter Donau und Lobau und der nicht minder umstrittenen S1-Spange gebaut würde.

Das ruft die Verkehrsexperten der TU Wien auf den Plan, auf deren Zahlen der 2015 im Auftrag der früheren Verkehrsstadträtin Maria Vassilakou (Grüne) erstellte "Bericht der ExpertInnengruppe" basiert. Sie mahnen zur Sachlichkeit. "Die S1-Donauquerung würde natürlich zusätzlichen Verkehr bringen", stellt Barbara Laa von der TU auf Anfrage des STANDARD klar. Die angesprochene Entlastung im Jahr 2030 resultiere in den Modellrechnungen fast ausschließlich von einem gleichzeitig angenommenen massiven Ausbau des öffentlichen Verkehrs samt flächendeckender Parkraumbewirtschaftung.

Sechs Varianten

Die im Expertenbericht aufgelisteten sechs Varianten sind insofern erhellend, als für das Jahr 2030 de facto nur zwei das Verkehrsaufkommen auf der Südosttangente zu senken bzw. einzubremsen vermögen:

· In Variante B+ würde die prognostizierte tägliche Zahl an Fahrzeugen auf der Praterbrücke (dem Herzstück der A23) von 232.000 auf 211.000 sinken – diesfalls ohne S1, sondern lediglich durch den massiven Ausbau der Öffis und die flächendeckende Einführung des Parkpickerls. Letzteres bewirkt eine Reduktion um drei Prozentpunkte – also deutlich mehr als die Öffis. Hingegen nähme der Pkw-Verkehr mit S1, Stadtstraße und Spange S1 um einen Prozentpunkt zu.

· Variante D würde die A23 rechnerisch am meisten entlasten, weil die Zahl der Kfz auf täglich 184.000 sinkt. Allerdings wäre diese Senkung teuer erkauft, weil das Verkehrsaufkommen in Wien insgesamt steigen würde. Geschätzte 65.000 Fahrzeugfahrten würden laut Berechnung der TU-Experten auf die neu zu bauende S1 verlagert werden. Dies freilich nur, wenn zusätzlich zum Straßen- und Tunnelneubau auch der öffentliche Verkehr wie im Szenario B+ massiv aufgerüstet würde. Nur zusammen ergebe das die vom ÖAMTC genannten 77.000 Kfz weniger auf der A23.

Mehr Verkehr in Sicht

Diese Verlagerung sei allerdings mit Vorsicht zu genießen, sie sei nicht nachhaltig, sagt TU-Expertin Laa: "Die neuen Straßen werden den Verkehr wieder auffüllen, weil es dadurch wieder attraktiver wird, dort zu fahren." Den Einschränkungen durch den Klimawandel sei anders zu begegnen. "Wir brauchen neue Antworten auf die alten Probleme."

· Keine Alternative ist übrigens Variante C, die sich auf den Neubau beschränkt. Der Effekt: Ohne Öffi- und Parkpickerl bliebe die Tangente mit 232.000 Fahrzeugen am Anschlag und auf S1 täglich 73.000 Kfz.

Zu ähnlichen Ergebnissen waren die vom Autobahnkonzern Asfinag für die 2009 eingereichte Umweltverträglichkeitsprüfung der S1 bestellten Experten gekommen. Auch sie wiesen der S1 samt Donauquerung, Spange und der sogenannten Stadtstraße (zur A23 in Wien-Hirschstetten) im werktäglichen Verkehr nur eine vorübergehende Entlastung der A23 aus. Auf Basis der Verkehrszahlen aus 2005 wurde für 2025 dank S1 eine Absenkung des durchschnittlichen werktäglichen Verkehrs von 243.300 auf 221.100 Kfz errechnet.

Vorübergehende Dämpfung

Eine dauerhafte Entlastung ist das bei einem Ausgangspunkt von durchschnittlich 186.100 Fahrzeugen pro Werktag auf der Südosttangente freilich nicht, sondern lediglich eine Dämpfung. Der Rückgang währte laut den Vorausberechnungen entsprechend kurz: Bereits 2035 würde der Verkehr auf der A23 wieder auf 243.500 Fahrzeuge hinaufschnellen.

Das gilt übrigens auch für die CO2-Emissionen. Sie steigen laut den UVP-Unterlagen im Szenario mit der S1 bis 2025 um 60 Prozent. "Seit Jahren ist bekannt, dass die von Politikern als Hauptargument für die S1-Lobauautobahn ins Treffen geführte Verkehrsentlastung keine reale Grundlage hat", sagt Wolfgang Rehm von der Umweltorganisation Virus. "Das zeigen alle Verkehrsuntersuchungen gerade auch jene der Asfinag." (Luise Ungerboeck, 29.7.2021)