Dreimal sollte man sich seinen dreieinhalbstündigen Film anschauen, um einen Faden in der Diskussion der fünf Hauptfiguren zu finden, empfiehlt der Regisseur.

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Im Mai 1900 erschien in Russland ein Buch mit dem Titel Drei Gespräche über Krieg, Fortschritt und das Ende der Weltgeschichte mit Einschluss einer kurzen Erzählung vom Antichrist. Der Verfasser war Wladimir Sergejewitsch Solowjow, ein Religionsphilosoph und Dichter, der zwischen einem fantasierten, "pan-mongolischen" Asien und der europäischen Zivilisation nach einer heilsgeschichtlichen Deutung suchte. Die Figuren sind gebildete russische Aristokraten, die an der französischen Riviera alle Muße haben, sich in Form einer "zufälligen gesellschaftlichen Unterhaltung" den großen Fragen zu widmen.

Heute sind die drei Gespräche weitgehend vergessen, die "eingeschlossene" kurze Erzählung vom Antichrist hingegen ist als Endzeitvision, bei der man sich fragt, ob sie etwas von der heutigen Geopolitik geahnt hat, berühmt geworden.

Bei Cristi Puiu geht das Interesse an dem Stoff lange zurück, schon 2012 hat er dazu eine Art Studie vorgelegt, die leider nahezu unbekannt gebliebenen Trois exercises d’interpretation. Nun hat er sich seinen Lebenstraum erfüllt und die Gespräche verfilmt: Malmkrog, ein dreieinhalbstündiges Salonstück mit der Pointe, dass die Erzählung vom Antichrist ausgespart bleibt.

Europäische Fragen

Das hat vermutlich mit Gattungsaspekten zu tun: Innerhalb des Buchs von Solowjow fiele der Antichrist, auf das Kino umgelegt, eher in die Domäne von Ridley Scott oder Roland Emmerich. Cristi Puiu aber ist einer der großen Formalisten des Weltkinos. Er wurde mit dem Protokollfilm Der Tod des Herrn Lazarescu bekannt, in dem er Schritt für Schritt verfolgte, wie ein sterbenskranker alter Mann durch das rumänische Gesundheitssystem geschoben wird wie durch ein Diagramm verfehlter Politik.

Mit Aurora (2010) stieß er beim Festival in Cannes die ganze Filmwelt vor den Kopf: ein dreistündiger, abweisender Film über einen pathologisch verschlossenen Mann, den er gleich auch noch selbst spielte. Bei der Geschichte vom Antichrist würde Puiu nicht so sehr auf die Bildwelten abheben, die Solowjow evoziert, sondern auf den reinen Text.

Und das gilt nun ebenso und naheliegenderweise für die drei Gespräche. Schon der Titel des Films verweist auf eine Veränderung gegenüber der Vorlage, in der auch bereits ein beträchtliches Stück neuer Deutung steckt: Malmkrog ist ein Ort im Westen Rumäniens, in einer Gegend, die stark ungarisch geprägt ist und in der 1900 mit den Dienstboten Deutsch gesprochen wird. Das bis heute habsburgisch imprägnierte Czernowitz ist die nächstgelegene Metropole.

Filmgarten

Solowjows Russen geraten bei dem Rumänen Puiu also in einen sehr aktuellen Resonanzraum: Es ist, auch gut 120 Jahre später, das europäische Zivilisationsprojekt, um das Malmkrog kreist. Und wenn Edouard, eher der Vernünftler unter den fünf Hauptfiguren, davon spricht, dass es eine der Aufgaben Europas sei, "die Türkei zu zivilisieren", dann kann man in dieser Formulierung eine Menge mithören: das konkrete Hin und Her um eine mögliche EU-Beitrittskandidatur der Türkei wie auch Skepsis gegenüber einer normativen Vorstellung von Europa, das dem Rest der Welt ein Niveau vorgeben wollte.

Sätze wie dieser klingen bei allem Orientalismus anders, wenn sie nicht in einem privilegierten (oligarchischen) Exil am französischen Mittelmeer gesprochen werden, sondern in der komplexen Geschichtslandschaft Osteuropas in einem Moment (wie aktuell), in dem Russland eher einen Antagonismus zu Europa zu betonen scheint als das – offenkundig auch für Puiu bedeutendere – Verbindende.

Menschen auf engem Raum

Malmkrog wurde tatsächlich in einem Schloss in dem gleichnamigen Ort gedreht, in einem historischen Setting, mit Bücherwänden, Teppichen und Kandelabern. Nikolai, Olga, Madeleine, Edouard und Ingrida, die fünf Hauptfiguren, stecken in den steifen Kostümen des späten 19. Jahrhunderts und in dem distinguierten Französisch, das damals noch als Umgangssprache eines geistigen Europa galt.

Puiu, der zuletzt auch mit dem Familiendrama Sieranevada eine Vorliebe für komplexe Inszenierung von Menschen auf engem Raum zeigte, folgt den Gesprächen mit einer Kamera, die sich so gut wie möglich unsichtbar macht. Zwischendurch gibt es aber auch immer wieder ausgesuchte Kompositionen mit Spiegeln, Fenstern, Türen und Zimmerfluchten. Die Schauspieler kommen aus allen Teilen Europas, sie treffen sich in einer niemals deklamatorischen, aber immer als Medium eines angestrebten Übereinkommens erkennbaren Sprache.

Dreimal sollte man sich seinen Film ansehen, hat Cristi Puiu verlauten lassen, um in den vielen Verästelungen der Debatte einen Faden zu finden. Tatsächlich erwies sich Malmkrog bei der Kinovorführung auf der Berlinale 2020 als eine Überforderung. Dass er in Österreich einen Kinostart hat, ist ein Glücksfall, mit dem einer angemessenen Rezeption dieses großen Films ein Weg bereitet wird. (Bert Rebhandl, 30.7.2021)