Segelschach.

Illustration: Marie Jecel

49er-Steuermann Benjamin Bildstein und Vorschoter David Hussl reisten mit großen Hoffnungen nach Japan. Nun müssen sie sich sputen.

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Roman Hagara (Mitte): "Möglichst viele Züge, die dir helfen könnten, im Kopf haben."

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Das Problem ist, dass es im Segeln nicht nur einen Gegner gibt, sondern viele. Das Glück ist, dass auch nicht wenige, nämlich zehn pro Klasse, das sogenannte Medal Race erreichen. Das Problem ist, dass die Punkte aus den vorherigen Wettfahrten mitgenommen werden. Das Glück ist, dass das Medal Race doppelt zählt. Das Problem ist, dass alle drei österreichischen Boote vor Enoshima, das rund eine Autostunde entfernt und südwestlich von Tokio liegt, keine Bank auf eine Medal-Race-Teilnahme sind. Das Glück ist, dass etliche Wettfahrten ausstehen.

Ungefähr zur Hälfte des absolvierten Programms liegen oder lagen Thomas Zajac und Barbara Matz im Nacra 17 an neunter, Benjamin Bildstein und David Hussl im 49er an elfter, Tanja Frank und Lorena Abicht im 49er FX an 15. Stelle. Die Flotte hätte sich einen besseren Start erhofft, keine Frage. Schließlich hat keine andere Sportart in diesem Jahrtausend olympisch so viel beigesteuert. Da gab’s im Segeln dank der zweimaligen Tornado-Olympiasieger Roman Hagara und Hans Peter Steinacher (2000, 2004) sowie Windsurfer Christoph Sieber (2000) dreimal Gold, dazu kamen Laser-Silber durch Andreas Geritzer (2004) und Nacra-17-Bronze durch Zajac/Frank (2016).

Roman Hagara steht dem Segelteam seit zwei Jahren und auch in Enoshima beratend zur Seite. Er vergleicht das Segeln gerne mit dem Schachsport, im Gespräch mit dem STANDARD sagt er: "Das Spielfeld ist größer, und es gibt mehr äußere Einflüsse. Aber wie im Schach musst du im Segeln etliche Züge, also Manöver, vorausdenken, du musst dich richtig positionieren."

Wind, Welle, Strömung

In jeder Partie, sprich in jeder Wettfahrt, kommt schon der Eröffnung vulgo dem Start viel Bedeutung zu. "Du musst den richtigen Plan haben, dich richtig hinstellen", sagt Hagara. Faktoren wie Wind, Welle und Strömung werden in die Überlegungen miteinbezogen, zusätzlich gilt es, die Konkurrenz im Auge zu behalten.

In jedem Feld sind einige Teams oder Boote als besonders gute Starter bekannt. Die Frage ist allerdings, ob man sich an solchen Booten orientiert oder ihnen besser aus dem Weg geht, damit sie einem nicht den Wind aus den Segeln nehmen. Hagara: "Kein Plan ist fix, du musst immer flexibel bleiben, reagieren können. Du musst möglichst viele Züge, die dir helfen könnten, im Kopf haben."

In jedem Feld gibt es natürlich auch schlechte Starter, von ihnen geht ein gewisses Risiko aus. "Mit Leuten, die sich am Start nicht unter Kontrolle haben, will man lieber nichts zu tun haben", sagt Hagara, "sonst wird man noch in irgendeine Turbulenz verwickelt". Der 55-jährige Wiener ist kein passionierter Schachspieler, hat aber früher regelmäßig gegen seinen Vater und seinen Bruder Andreas gespielt. "Handy und Computer gab’s ja noch nicht und hätten mich" – das freilich ist natürlich seine heutige Sicht – "auch nicht interessiert."

Er selbst segelt immer noch und immer noch mit Steinacher, das Duo ist auf der Extreme-Tour in der GC32-Klasse unterwegs. Dort war zuletzt pandemiebedingt weniger los als geplant, davon profitiert Österreichs Segelverband, weil Hagara mehr Zeit zum Analysieren und Coachen hat.

Das Schachbrett oder, etwas allgemeiner gesagt, das Spielfeld ändert im Segeln oft die Form, das ist wind- und wellenbedingt. Begrenzt ist es sehr wohl, Bojen legen die Bahnen fest. Hagara: "Auf dem Wasser siehst du vieles nicht, weil es ein großes Spielfeld ist. Dann passiert etwas ganz rechts oder ganz links, aber du kannst es nicht in deine Strategie einbauen."

Auch Thomas Zajac, der in Rio gemeinsam mit Tanja Frank Österreichs einzige Medaille der Zehnerjahre geholt hat, kommt aufs Schachspielen zu sprechen. Es schade nicht, sich in ein Pferd hineinzuversetzen, nicht in ein lebendiges, sondern in die Schachfigur.

Zwei Perspektiven

Denn viel mehr als der Springer, der zwei Felder nach vorne und eines zur Seite oder zwei zur Seite und eines nach vorne ziehen kann, bekommt man am Steuer eines Segelboots von einer Wettfahrt nicht mit. Zajac: "Wir haben unsere Perspektive, Roman hat eine andere." Hagara bestätigt es. Sein Job sei zu analysieren, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen und diese den Aktiven zu verklickern. "Ich hab immer viel analysiert."

Im Schach wie im Segeln und in fast allen anderen Sportarten nützen die tollste Eröffnung, der beste Plan und die raffinierteste Taktik nichts, wenn im Endspiel die Nerven versagen. 2016 hatten Zajac und Frank in entscheidenden Momenten kühlen Kopf bewahrt und sich so die Medaille gesichert. In Tokio sind die Österreicher früher als erhofft unter Druck. Ihm gilt es standzuhalten, sonst könnte es bald heißen: Segeln matt! (Fritz Neumann, 30.7.2021)