Autor Howard Jacobson: mit 77 noch ein Jungspund.

Foto: Keke Keukelaar

Glücklich das Land, das solche Autoren hat. Nun hat ja Großbritannien, nimmt man nur das 20. Jahrhundert, eine übergroße Fülle an "komischen" Autorinnen und Autoren, von P._G. Wodehouse über Kingsley Amis (The Old Devils) und Spike Milligan (Hitler: My Part in His Downfall) bis zu Michael Frayn oder Helen Fielding. An der Tete, was die Romankunst der Gegenwart angeht: Howard Jacobson.

Er erhielt 2010 für seinen Roman Die Finkler-Frage Britanniens bedeutendsten Literaturpreis, den Man Booker Prize. Was damals keine Buchseite lang verwunderte. Denn derart grandiose Dialoge, in denen es schnell, gewitzt, schrill, realitätsabgehört aneinander vorbeiredend und schneidend böse zuging, hatte man schon lange nicht mehr in einem europäischen, ganz zu schweigen von einem kontinentaleuropäischen Gegenwartsroman gelesen. Was denn auch erklären half, dass Die Finkler-Frage der erste ins Deutsche übersetzte Roman Jacobsons war – sein Erstlingsbuch, zuvor war er eine knappe Dekade lang als Hochschuldozent in Australien wie in Mittelengland tätig gewesen, war 1983 erschienen. Nicht gerade ein Ruhmesblatt für das deutschsprachige Verlagswesen. Hatte er doch bis 2010 dreizehn Bücher, teils preisgekrönt, fast immer hochgelobt, publiziert.

Alt und noch älter

Live a Little, das nun auf Deutsch unter dem etwas umständlichen, bräsig kalauernden Titel Rendezvous und andere Alterserscheinungen vorliegt, ist vielleicht Jacobsons bestes Buch. Es ist etwas Gewagtes, literarisch monströs heikel – eine komplett politisch unkorrekte "geriatric comedy of manners", eine Senioren-Gesellschaftskomödie mit und über zwei Figuren, die höchstbetagt sind.

Da ist zum einen Beryl Dusinbery, über 90, die "Prinzessin", gallig-scharfzüngig, impulsiv, sarkastisch, die in ihrer Wohnung in der Finch ley Road zu London von zwei Betreuerinnen, einer aus Afrika, einer aus Moldawien, gepflegt wird. Richtig hinfällig ist sie nicht, doch das Gedächtnis scheint sie nach und nach im Stich zu lassen. Gegenfigur ist Shimi Carmelli, Sohn einer Jüdin, die starb, als er Teenager war, und eines Vaters aus Malta, der ein Jahr nach dem Tod der durchscheinend fragilen Frau spurlos verschwand, stramm auf die 91 zugehend. Temperamentös ist er, mit einem hypergenauen Gedächtnis geschlagen, das exakte Gegenbild zu Dusinbery: lebenslang so schüchtern, dass er im Spielzeugladen seines Onkels den Keller inventarisierte und nur dann kurz aufblühte, wenn er als Kartomant auftrat, als jemand, der aus Karten die Zukunft las. Mittlerweile fristet er ein Dasein in einer kleinen Wohnung über einem China-Restaurant, in dem er immer seltener auch die Tischgäste unterhält.

Liebe und Satire

Wie Jacobson aus beider Erinnerungsströmen – dem Dusinberys, die ihr Leben, ihre Amouren Revue passieren lässt, ihre Enttäuschungen, emotionalen Niederlagen und Verheerungen (für sich wie für die drei Söhne, die zu lieben sie nie bewerkstelligen konnte), wie dem Carmellis, dem distinguiert gekleideten, orthopädisch beeindruckend aufrechten Neurosenbündel auf zwei Beinen mit Inkontinenzpro blem – ein funkensprühendes Panorama kondensiert, ist schlech terdings grandios, von extremistischer Unterhaltsamkeit. Und dort, wo er Nebenfiguren skizziert, von derart grimmiger, weil schmerzender Bösartigkeit, dass es einem beim Lesen den Zahnschmelz aufrollt. So heißt es an einer Stelle über Beryls Schar an Schwiegertöchtern und Enkeln, von denen sie nicht einen von Angesicht kennt, geschweige denn, dass sie die Namen zu memorieren in der Lage wäre: "Wie läuft’s?, erkundigen sie sich. Anlass zu fragen, was denn überhaupt laufe, besteht nicht. Neuigkeiten gibt es ausschließlich gute. Ja, nein, ganz toll. Licht hüpft von einem zum anderen.

Die Prinzessin (Beryl) ruft ihn (Shimi) erneut zu sich. ‚Sie sind unsere Zukunft‘, sagt sie, halb in der Hoffnung, die Runde nehme davon Notiz. ‚Sind Sie da nicht auch froh, dass wir keine haben?‘"

Erst jenseits der Hälfte des gut übersetzten Romans führt er die beiden Hauptfiguren zusammen. Auch das muss man sich erst einmal trauen! Jacobson, der, als dieser Roman 2019 in Großbritannien erschien, mit 77 ein Jungspund war verglichen mit seinen Protagonisten, macht das mit konzentrierter Nonchalance. Und mit Verwicklungsvolten im Folgenden, aus dem sich am Ende etwas für den hygienischen Maniker wie für die narzisstische Gefühlsanarchistin, die sich erotisch nahm, was und wen sie wollte – und Jacobson schildert anatomisch-erotische Peinlichkeiten im und außerhalb des Betts wie auf dem Rücksitz eines Rolls-Royce akribisch standesbewusst, also ganz englisch –, Überraschendes entwickelt: Heirat, von körperlichen Teilausfällen marmorierte Harmonie, ein Happy Ending. Und die Sonne geht nie unter. Nun, nicht ganz. Jeder der beiden freut sich am nächsten Tag, die Sonne noch zu erleben. (ALBUM, Alexander Kluy, 1.8.2021)