Tag 1: Montag, 31. Mai 2021, 18.30 Uhr, Wiener Staatsoper, "L’incoronazione di Poppea"

Prolog: Fortuna, die Tugend und Amor führen über ihre Rangordnung in der Welt ein Streitgespräch, aus dem Amor siegreich hervorgeht: "Wofür haltet ihr euch, Göttinnen, dass ihr die Herrschaft und die Regierung der ganzen Welt nur unter euch aufteilt und Amor ausschließt, dessen Göttlichkeit euch beide weit übertrifft? […] Noch heute schlage ich euch beide in einem einzigen Wettstreit, und ihr werdet zugeben müssen, dass ich den Lauf der Welt bestimme."

Foto: privat
Foto: privat

Mit Tamara, meiner besten Freundin seit dem Kindergarten, seit wir beide vier Jahre alt waren, lauschte ich meiner Favoriten-Barockoper. Dass "die Liebe den Lauf der Welt bestimme", das sollte auch ich in den kommenden Tagen vor Augen geführt bekommen.

"Der Papa ist weg. Seit dem Nachmittag schon. Ist von seiner Spazierrunde nicht zurückgekehrt", lautete Tamaras beunruhigende Kunde in der Opern-Pause. Sie hatte mit ihrer Mutter telefoniert. Die Sorgenfalte auf ihrer Stirn wirkte tiefer als je zuvor. Es war keine Premiere, dass ihr Vater abgängig war. Einmal war er aus dem Wohnzimmer wildfremder Menschen von der Polizei abgeholt worden. Hatte sich bei denen auf das Sofa gesetzt, wohl in aller Gewissheit, dass das sein Zuhause wäre.

Dabei kannte ihn dort niemand. Er kannte sich selbst wohl aber auch längst nicht mehr. Der einstige "Maestro suggeritore" war demenzkrank. Vorbei und vergessen, seine Jahre als Souffleur an der Wiener Volksoper. Der Mann, der in unzähligen Aufführungen die Rollen mitlas und sang. Sein Leben schien selbst zum "Hänger" geworden zu sein. Und niemandes Flüstern oder Hauchen half ihm darüber hinweg. Er kannte seinen eigenen Namen nicht mehr, seine Töchter nicht, seine Adresse nicht. Eine Banane aß er einmal samt der Schale. In seinem Kopf waren keine simplen Handlungsanleitungen mehr abrufbar.

Vier Tage lang suchten Familie und Freunde den einstigen "Maestro suggeritore", der demenzkrank abgängig war.
Foto: Archiv Fermata

In unserem Stück an diesem Abend fragte Poppea indes ihren Nero: "Kommst du wieder?". Er versprach: "Ich komme wieder!" Und auf ihr "Wann?" folgte von Nero "Sehr bald!". Die Szene endete mit "Addio", "Addio", "Addio". Das hatte Tamaras Papa als Verabschiedung auch immer gesagt, früher, als ich Kind und bei ihnen zu Gast war: "Addio".

Tag 2: Dienstag, 1. Juni 2021, 19.00 Uhr, Feuerwache am Steinhof, Wien-Ottakring

Tamara und Elisabeth, 1996
Foto: privat

Alle trudelten ein. Freunde und Freundinnen von Tamara. Eine Nacht und einen Tag war ihr Papa nun schon wie vom Erdboden verschluckt. Ihre Schwester hatte untertags schon unermüdlich Flugblätter aufgehängt, oben am Wilhelminenberg, beim Flötzersteig, beim Ottakringer Bad, bei den Steinhofgründen, beim Dehnepark, in unserer Hood aus der Kindheit. Tamara kann keine großen Runden drehen, das schaffen ihre Füße nicht. Eine Frau aus diesem festgeknüpften Freundschaftsnetz rief also eine eigene Whatsapp-Gruppe namens "Feuerwache Ottakring 19h" ins Leben: "Das ist Tamaras Papa Johann. Was er anhat und so, verrät sie euch dann." Wir kamen mit Auto, Fahrrad oder Wanderschuh, ausgestattet mit diversen Talenten: der umsichtige Arzt, die flinke Ortskundige, der strukturierte Einsatzleiter oder die willigen Arbeitskollegen-Burschen. Die Stimmung war trotz des Anlasses gut, fast ein wenig Schnitzeljagd-Feeling. Hier ging es "nicht nur" um die Suche nach Tamaras Papa, hier ging es auch um ein Auffangen, ein Mittragen, einen Liebesbeweis an Tamara.

Unerträgliche Situationen aus der eigenen Kindheit, Jugend und Jungerwachsenenzeit. An die wurde ich an diesem Abend der Vermisstensuche selbst erinnert. Mit gehörigem Abstand konnte ich aber nun gut davon erzählen. Zu hören bekam dies alles die Älteste meiner drei Töchter. Auch sie hatte ihrer Taufpatin helfen wollen, ungefragt und selbstverständlich. So klapperten wir zu dritt per Auto diverse Strecken ab. Meine jüngste Tochter, die genauso wie die mittlere zu Hause hatte bleiben müssen, bombardierte mich einstweilen ohne Unterlass mit Botschaften an Tamara: "Sag ihr, dass ich ihr viel Erfolg wünsche!" – "Sag ihr, dass ich hoffe, dass ihr Papa trotzdem bald gefunden wird!" – "Sag ihr, dass ich sie lieb habe!"

Die drei Töchter von Elisabeth mit Tamara, 2020
Foto: privat

Baumgartner Höhe. Wir steuerten direkt auf den Haupteingang des riesigen Spitalareals zu, und nüchtern, fast wie eine Reiseleiterin, begann ich zu schildern: "Und hier in diesem Spital passierten sehr gravierende Momente meines Lebens. Ein Stück weiter vorne war das sogenannte Pulmologische Zentrum, wo ich gleich zweimal in meiner Volksschulzeit jeweils ein, zwei Monate mit Lungenentzündung liegen musste. Hier in der Mitte nach oben war die Psychiatrie. Meine Mama war ja psychisch krank. Kennengelernt hast du deine Oma nicht. Sie ist zu Allerheiligen gestorben, drei Tage nach deinem ersten Geburtstag, im Alter von 62 Jahren."

Meine Mama war manisch-depressiv. Heute sagt man bipolare Störung dazu. Wenn es ganz schlimm war mit ihrer Krankheit, wurde sie im Spital aufgenommen, meist im AKH, manchmal aber auch hier: "Am Steinhof sind die Verrückten, sagte man damals. Eine zwangsweise Spitalseinweisung ging nur bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung. Diese Begriffe kannte ich sehr genau, hatte mir als Jugendliche nicht selten gewünscht, dass sie nicht mehr nach Hause kommt, und dann kam sie aber doch wieder. Das war kein schöner Gedanke, für den ich mich auch oft geschämt hatte. Sie war doch meine Mama! Und zwar eine gute. Trotz allem. Ich bin, wer ich bin, auch durch sie. Die Mama konnte Familienfeste feiern wie was. Die Mama machte Ausflüge mit uns und der ganzen Mischpoche. Die Mama schaute auf uns. Wenn es ihr halt gut ging. Frieden schließen mit ihrer Krankheit konnte ich aber erst viel später.

Elisabeth und Mama, 2001
Foto: privat

Als in der letzten manischen Phase meiner Mama eine Lungenentzündung bei ihr hinzukam, lernte ich auch die Intensivstation der Lungenabteilung hier in diesem Spital kennen. Nein, falsch, die hatte ich schon ein, zwei Jahre davor betreten. Als ich nämlich meine Oma auch auf genau dieser Intensivstation weinend und zitternd besucht hatte. "Du weißt, das war die Mama von deinem Opa. Sie hatte mit ihrem Mann unser Haus, in dem wir jetzt leben, gebaut. Und ihre Ringe trage ich noch immer täglich aus Verbundenheit mit ihr."

Gestorben ist die Oma dann Jahre später auch wieder in diesem Spital. Ich war die Letzte aus der Familie, die sie noch besucht und lebend gesehen hatte. Sie wollte nicht mehr, das habe ich gespürt. Als ich an ihrem Bett stand, hat sie die Augen vor der Welt verschlossen, hat mich nicht angeschaut. Ich habe mich zu ihr gebeugt und ins Ohr geflüstert wie eine Souffleuse: "Omi, ich hab’ dich sehr lieb!" Da hat sie genickt und "Ich weiß" gesagt. Am nächsten Morgen hat mich das Spital angerufen und berichtet, dass sie verstorben ist. Es war der 3. Juni 2004.

Elisabeth und Omi, 1999
Foto: privat

Tag 3: Mittwoch, 2. Juni 2021, 13.15 Uhr, www.heute.at

"Spürhunde, Heli: Hans G. verschwand in Wien spurlos – Ein 83-jähriger Demenzkranker wird derzeit in Wien vermisst. Hans G. ist seit 31. Mai um ca. 16 Uhr aus seiner Wohnung in einem Ottakringer Kleingartenverein abgängig. Eine Suchaktion der Polizei mit einem Hundespürtrupp und der Wärmebildkamera eines Helikopters blieb bislang ohne Ergebnis." Eine weitere Freundin Tamaras, eine Journalistin, war in der Sache aktiv geworden. Ihr Tweet fand große Verbreitung. Selbst der Chefredakteur von Heute appellierte daraufhin an die Bevölkerung: "In unserem Wien geht keiner verloren."

Erste Hoffnungsschimmer tauchten trotz bereits zwei unvorstellbar langen Nächten und Tagen auf, die Tamaras Papa nicht mehr nach Hause gekommen war. Auch Tamaras Mama war aufgeregt. Sie, die Britin, die als blutjunge Balletttänzerin den Kärntner Slowenen am Theater an der Wien kennen- und liebengelernt hatte, simste an ihre Tochter zu den ersten Hinweisen aus der Bevölkerung: "It was Papa!!! The sniffer dogs picked up the scent immediately, went crazy and followed it to a Bankomat, then to an Ärzte-Zentrum!!! But lost the trail!!! The lady said he looked well and spoke to her quite normally! Amazing story!!! So now we know he’s not lying injured in the woods!!!"

Tamaras Mama, die Balletttänzerin, frühe 70er Jahre
Foto: privat

Tag 4: Donnerstag, 3. Juni 2021, 1.16 Uhr

Bin ich müde, falle ich innerhalb von wenigen Sekunden in den Tiefschlaf. So geschehen in den Lernpausen am Juridicum, während der Wehen bei den drei Geburten, und zum Leidwesen der Jung-Töchter früher beim Vorlesen der Kinderbücher. Da bin ich dann voll weg. Nicht so in dieser Nacht.

Das Handy, seit drei Nächten ausnahmsweise neben dem Bett, vibrierte mit einer Nachricht von Tamara, und ich war hellwach: "Ich glaube jetzt mal fest daran, dass es ihm heute gut ging und er städtisch unterwegs ist. Und so hoffentlich aufgefunden werden kann. Facebook und Twitter waren auch gut."

Definitiv! Meine Töchter hatten es auch auf Instagram geteilt. Zur Zerstreuung hatte ich Tamaras Papa "von früher" gegoogelt. Artikel wie "Der Opern-Flüsterer" und "Südliche Klänge in Kärnten" poppten auf. Wir ziemlich beste Freundinnen waren darob beide gerührt, mitten in der Nacht, in unseren Betten am Handy tippend. Bis Tamara schrieb: "Ich rufe dich gleich an. Er ist gefunden worden."

Tamaras Papa wurde am 3. Juni 2021 auf einer Parkbank am Vogelweidplatz von einem aufmerksamen Passanten entdeckt. Dieser alarmierte daraufhin die Rettung. Im Spital erkannte die diensthabende Ärztin Tamaras Papa durch das Facebook-Posting und verständigte umgehend die Familie. (Elisabeth Schaffelhofer-Garcia Marquez, 1.8.2021)