"Yvonne hat kommuniziert. Aber nicht nur in eine Richtung. Sie hat vor allem zugehört", sagt Sabrina Filzmoser (links) über Yvonne Bönisch. "Einen solchen Zusammenhalt im Team gab’s noch nie."

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Peter Seisenbacher. Am besten beginnen wir die Geschichte gleich mit ihm. "Lassen wir ihn einfach weg", hat Sabrina Filzmoser zwar gesagt, "reden wir gar nicht erst über ihn." Aber sie weiß selbst, dass sich das nicht ausgeht. Freilich wird dies keine Seisenbacher-Geschichte. Sondern eine Filzmoser-Geschichte. Und eine Yvonne-Bönisch-Geschichte. Aber dazu etwas später. Wenn wir mit Seisenbacher, um den wir nicht herumkommen, fertig sind.

Alsdann. Peter Seisenbacher wurde im Dezember 2019 u. a. wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen zu fünf Jahren Haft verurteilt, später wurde die Dauer der Haft auf vier Jahre und zehn Monate reduziert. Dem Prozess vorausgegangen war eine Flucht über fast drei Jahre mit einer abenteuerlichen Festnahme in Kiew, nach der Seisenbacher wieder auf freien Fuß gekommen und untergetaucht war, eher er im September 2019 an der Grenze der Ukraine zu Polen verhaftet und ausgeliefert wurde. "Die Seisenbacher-Geschichte war ein Schock", sagt Filzmoser, "ein Tiefschlag für alle Judoka, für den ganzen Judosport in Österreich. So viele andere Menschen hatten diesen Menschen so viele Jahre als Idol und Vorbild vor Augen, als den großen Judohelden."

Im Maximarkt in Wels

Oktober 1988. Wir springen mehr als drei Jahrzehnte zurück, und wir springen in ein Einkaufszentrum in Wels in Oberösterreich, in den Maximarkt. Seisenbacher ist dort, Filzmoser ist dort, er 28, sie acht Jahre alt. "Die halbe Stadt ist zusammengelaufen", erinnert sie sich. Wegen Seisenbacher. Der hatte kurz zuvor in Seoul seine zweite olympische Goldmedaille gewonnen, den Olympiatitel von Los Angeles 1984 verteidigt. Im Judo und in Österreich war er ein Star. Die kleine Sabrina war beeindruckt, inspiriert. "Seinetwegen", sagt die große Sabrina, "hab ich kurz darauf mit dem Judo begonnen."

Da war Filzmoser bei weitem nicht die Einzige. Judo boomte, Judo wuchs sich aus, in die Breite wie in die Spitze. Ergebnis waren Medaillen, wie sie zunächst Filzmoser als zweimalige WM-Dritte und zweimalige Europameisterin, Claudia Heill als Olympiazweite 2004 sowie Ludwig Paischer als zweimaliger Europameister und Olympiazweiter 2008 erkämpften. Dieser Tage kamen in Tokio zwei weitere Olympiamedaillen dazu, Silber durch Michaela Polleres und Bronze durch Shamil Borchashvili. Ergebnis war aber auch ein enormer Zulauf, den viele Vereine verzeichneten. Stand heute gibt es 182 Judovereine in Österreich, sie haben 24.321 Mitglieder. Nicht viele Sportarten sind populärer. Ja, klar, Fußball (311.950 Mitglieder), Tennis (180.445) und der Skilauf (138.760) stehen weit darüber, doch so weit, wie man vielleicht meinen möchte, dann auch wieder nicht.

"Es ist eine gute Grundstimmung im Team. Die Medaillen sind Ergebnis von Teamwork. Unglaublich, dass es so aufgegangen ist", so Yvonne Bönisch.

Filzmosers Verein LZ Multikraft Wels ist ein gutes Beispiel dafür, wie Judo in Österreich funktioniert. Als sie 1988 angefangen hat, kümmerte sich Willi Reizelsdorfer als Coach um den Nachwuchs. Das tut er immer noch, 33 Jahre später. Bei einem Verein wie Multikraft Wels den Nachwuchs betreuen, das klingt nach weniger, als es ist. Wir reden von mehr als 4000 Kindern im Alter von fünf bis 15 Jahren, denen Reizelsdorfer die Judorolle beigebracht und denen er Freude an der Bewegung vermittelt hat. Vor allem aber reden wir von Kindern aus insgesamt 23 Nationen. Kein Tippfehler – 23! Was hier und in anderen Vereinen integrativ geleistet wird, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Auch Wien, Linz oder Innsbruck mischen im Judo mit. Doch der Sport lebt speziell von und in Vereinen im ländlichen Raum, im Flachgau, im Pinzgau, im Mühlviertel, in Wimpassing, in Kirchham bei Vorchdorf. Dort kommen Vereine leichter in die Schulen, und wenn ein Verein in die Schule kommt, kommen die Schulkinder in den Verein.

Auch schon wieder 14 Jahre her: Filzmoser 2007 mit EM-Bronze in Belgrad, Bönisch mit Silber.
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Willi Reizelsdorfer in Wels ist nicht nur das Judo wichtig. Der Stadt rannte er die Türen ein, damit Kinder, die es nötig hatten, nach jedem Training noch eine Stunde Deutsch-Unterricht erhielten. Er war so hartnäckig, dass die Stadt eine Lehrerin schickte und auch für die Kosten aufkam. "Dass im Verein die Burschen und Mädchen gemeinsam trainieren", sagt Filzmoser, "bringt enorm viel – für die Schule, fürs Leben. Viele Eltern, etwa von Tschetschenen, würden nie auf die Idee kommen, für die ist das unlogisch."

Die Familie von Shamil Borchashvili (26), der ein Vereinskollege Filzmosers ist, kam aus Tschetschenien nach Österreich, als er zehn Jahre alt war. Sie landete in Marchtrenk bei Wels – und beim Judo. Willi Reizelsdorfer nahm sich Shamils und seiner zwei Brüder an, Filzmoser half mit. "Sabsi hat uns von zu Hause abgeholt, ins Training gebracht, finanziell unterstützt", sagt der Olympiadritte. Filzmoser sagt, es sei auch Shamils älterer Bruder Kimran, der ihren "allerhöchsten Respekt" habe. "Er kümmert sich um die ganze Familie", schließlich gibt es da auch noch fünf jüngere Schwestern. Im Judo seien die drei Brüder stets unglaublich ehrgeizig und eifrig gewesen. "Sie waren nicht selten bis zwei oder drei Uhr in der Früh in der Halle und haben Technik trainiert."

"Tschudo", wie Tschetschenien

Der "sanfte Weg", das ist Judo wörtlich übersetzt. In Japan und mehrheitlich auch in Österreich spricht man es übrigens mit "Tsch" wie Tschetschenien aus. Viele Deutsche sagen buchstäblich "Judo", wie Juli. So gesehen hat sich auch Yvonne Bönisch umstellen müssen, als sie Anfang 2021 als Cheftrainerin in Österreich begann. Die Potsdamerin ist wie Filzmoser Jahrgang 1980, auch sie hat in der Klasse bis 57 Kilogramm gekämpft, die beiden sind einander oft begegnet, auf und neben der Matte. Bönisch war 2004 Olympiasiegerin, mag sein, auch deshalb hat sie lange vor Filzmoser die Karriere beendet und 2009 als Trainerin begonnen. Bis 2020 war sie Assistenzcoach in Israel, nun ist sie in Österreich die einzige Cheftrainerin weltweit.

Bönisch hatte sich gegen zwei Dutzend Mitbewerber durchgesetzt. Ihre Verpflichtung war schon eine Ansage, schließlich wird Judo auf Trainer- und Funktionärsebene von Männern dominiert. "Zu akzeptieren, dass sie nicht mehr allein zuständig und nicht mehr hauptverantwortlich sind, ist für viele Männer mordsschwierig", sagt Filzmoser. "Und wenn ihnen eine Frau vorgesetzt wird, ist es noch schwieriger." Doch Bönisch habe "von Anfang an einen enorm guten Job gemacht", das Vertrauen von Trainern und Aktiven gewonnen. "Yvonne hat kommuniziert", sagt Filzmoser. "Aber nicht nur in eine Richtung. Sie hat vor allem zugehört."

Nun, nach dem Ende ihrer Karriere, will sich Filzmoser vermehrt den Projekten widmen, die sie in Bhutan und Nepal hochgezogen hat, damit Kinder dort Judo trainieren können. Trainerin zu werden wie Bönisch? "Das ist nicht mein Berufswunsch." Doch in irgendeiner Form wird sie dem Judo erhalten bleiben, das ist fix. Ihr Name ist nicht wegzudenken. Sabrina Filzmoser. (Fritz Neumann, 1.7.2021)