Der Millennium Tower in Wien-Brigittenau ist nicht nur das zweithöchste Gebäude Österreichs, sondern auch Heimat eines Einkaufs- und Gastronomiezentrums. In der Nacht vom 8. auf den 9. Dezember 2019 soll sich dort eine Vergewaltigung ereignet haben.

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Wien – Verteidiger Phillip Wolm müht sich redlich, Zweifel beim Schöffengericht unter Vorsitz von Magdalena Klestil-Krausam zu säen. Ja, sein Mandant Eslam G. habe am 9. Dezember 2019 in einer Kabine der Herrentoilette des Einkaufzentrums Millennium-City Oralverkehr praktizieren lassen. Aber der sei einvernehmlich gewesen. Die Behauptung der damals 41-jährigen Frau R., sie sei von G. dazu gezwungen worden, stimme nicht. Denn: Sie habe auch andere Details angegeben, die faktisch nicht korrekt seien. Ein bei Sexualdelikten so häufiger Fall von Aussage gegen Aussage also – eine Herausforderung für den Senat.

Der in Kairo geborene 27-jährige Österreicher bestreitet die Anklage entschieden. Er sei an diesem Abend gegen 0.30 Uhr mit einem Freund, dessen Schwester und deren Freundin in den Club in dem Einkaufszentrum gekommen. Er habe Alkohol konsumiert und gegen vier Uhr auf der Tanzfläche Kontakt mit Frau R. aufgenommen. "Wie?", interessiert die Vorsitzende. "Ich habe ihr sicher nicht auf den Arsch gefasst, vielleicht auf die Hüfte", beteuert der Angeklagte. "Sie hat mich auch angefasst, das beruhte auf Gegenseitigkeit", schildert er, aber auch, dass nicht viel gesprochen wurde, ehe man sich küsste.

Frau soll Wohnung angeboten haben

"Wie ist es danach weitergegangen?", fragt Klestil-Krausam. "Wir sind gegangen." – "Um was zu machen?" – "Es war lediglich vereinbart, das weiterzuführen, was wir im Club begonnen haben", lautet die seltsam gespreizt formulierte Antwort. "Haben Sie an Sex gedacht, um es auf den Punkt zu bringen?", bedient sich die Vorsitzende der Alltagssprache. Der siebenfach vorbestrafte G., der sich derzeit in Strafhaft befindet, weicht aus: "Man schaut einfach, was sich entwickelt. Der Plan war, rauszugehen, eventuell zu ihr zu fahren. Das hat sie mir auch angeboten."

Nach Darstellung des Angeklagten habe die Frau sich aber anders entschieden und wollte lieber sofort auf dem öffentlichen WC des Einkaufszentrums Intimitäten austauschen. "Sie ging gleich in die Richtung", behauptet G., wird aber von der Vorsitzenden korrigiert. "Auf dem Überwachungsvideo ist das nicht zu sehen", merkt sie an. Noch etwas ist ihr unklar: "Warum sind Sie nicht in die Wohnung gegangen?" Die verblüffende Antwort: "Ich wollte nichts Langfristiges." – "Aber wo ist der Unterschied, ob man einen One-Night-Stand in einer Wohnung oder auf dem WC hat? Der Ort sagt ja nichts darüber aus, wie lange eine Beziehung dauert?", zeigt sich Klestil-Krausam mit der Erklärung nicht ganz zufrieden.

Auf den Händen ins WC getragen

Was eine andere Überwachungskamera jedenfalls aufgenommen hat, sind ein Kuss und dass G. die Frau auf Händen in die Toilette trägt. Aus romantischen Gründen, wie der Angeklagte auf Nachfrage eines Laienrichters sagt. In der Sanitäranlage selbst ist nach seiner Darstellung die Romantik nicht so ausgeprägt gewesen: Da er bereits so erregt gewesen sei, habe der Oralverkehr maximal eine Minute gedauert. "Da das Ganze so schnell vorbei war, ist die Stimmung gekippt", behauptet G. dazu. Ihm sei die rasche Ejakulation unangenehm gewesen, außerdem habe er ohnehin die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen wegen seiner On-off-Freundin, mit der er einen Sohn hat, gehabt. Er habe sich daher wieder mit seinem Kumpel getroffen, diesem aber nichts von dem Vorfall erzählt.

Als G. in Deutschland eine Ersatzfreiheitsstrafe absaß, wurde er erstmals mit den Vorwürfen konfrontiert. Laut Protokoll sagte er damals noch, er könne ausschließen, dass sein Penis im Mund war. Er habe damit gemeint, er habe keine Gewalt angewendet, erklärt er nun dazu. Eine DNA-Probe, um sie mit dem auf Frau R.s Jacke gefundenen Sperma vergleichen zu können, verweigerte er in Deutschland zunächst. Erst ein richterlicher Beschluss zwang ihn dazu.

Hand von Hüfte weggeschoben

Klestil-Krausam zitiert auch noch aus einem Brief G.s an seine Schwester, der gegenüber er ebenso seine Unschuld beteuert. "Wenn sie nicht Nein sagt, ist es ja keine Vergewaltigung", stellt er gegenüber der Verwandten seine Sichtweise klar. "Aber ja, österreichische Frauen halt, für sie wird das Gesetz umgeschrieben", beschwert er sich in dem Schreiben. Was die Vorsitzende daher interessiert: "War es so, dass Frau R. nicht Nein gesagt hat?" Der Angeklagte sagt dazu aus: "Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie das nicht wollte." Was auf Überwachungsaufnahmen allerdings zu sehen ist: Als G. auf der Rolltreppe eine Hand auf R.s Hüfte legen will, schiebt die Frau ihn weg.

Ein Türsteher des Clubs erinnert sich als Zeuge an die Szene. "So richtig gefällt ihr das nicht", habe er zu seinem Kollegen gesagt. Gekümmert habe man sich aber nicht darum, da die Rolltreppe nicht mehr zum Club gehöre. "Wenn Sie auf der Straße jemanden sehen, der Hilfe benötigt, interessiert es Sie auch nicht, weil die ja nicht zum Club gehört?", kann sich die Vorsitzende da nicht verkneifen. Der Security kannte Frau R. jedenfalls als Stammgast, die regelmäßig mit einem Freundeskreis komme – er habe aber nie erlebt, dass sie das Lokal mit einem Mann verlassen habe.

Einvernahmevideo unter Ausschluss der Öffentlichkeit

R.s kontradiktorische Einvernahme wird auf Antrag von Privatbeteiligtenvertreterin Monika Ohmann unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorgespielt, was die Frau aussagt, kann man also nur über Umwege rekonstruieren. Die von Verteidiger Wolm in den Raum gestellten Unstimmigkeiten betreffen beispielsweise die Tatdauer – Frau R. sprach von einer halben Stunde, die Überwachungsaufnahmen zeigen, dass sie nach gut fünf Minuten aus dem WC kommt und einen verstörten Eindruck macht. Auch dass G. sie hineingetragen hat, weiß sie nicht mehr.

Der psychiatrische Sachverständige Peter Hofmann bietet eine Erklärung für Fehlleistungen des Gedächtnisses. Die Einvernahme habe über zehn Monate nach dem Vorfallstag stattgefunden, die Erinnerungsfähigkeiten der Menschen seien generell sehr unterschiedlich ausgeprägt. Die in einer Extremsituation ausgeschütteten Stresshormone würden dazu führen, dass kurz davor Erlebtes nicht richtig gespeichert werde. "Das kennt man etwa auch bei Opfern von Verkehrsunfällen", erklärt Hofmann. Aber vorgebliche Erinnerungslücken seien auch aus Verantwortungskalkül möglich, stellt der Gutachter klar.

Monatelanger Krankenstand

Hofmann geht allerdings davon aus, dass R. am 8. Dezember 2019, als sie mit Freunden in den Club kam, "ein rundes Leben" ohne auffällige Probleme gehabt habe. Kurz nachdem sie das WC verlassen hatte, sei sie dagegen aufgelöst und verweint zu ihren Freunden zurückgekehrt, die die Polizei alarmierten. In der Folge hätten sich bei der Frau eine Depression und eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, die einen monatelangen Krankenstand nötig machten. Erst ein halbes Jahr später konnte sie die verschriebenen Psychopharmaka langsam absetzen, mittlerweile gehe es ihr aber besser.

Am zweiten Verhandlungstag wird der Bekannte von Frau R. befragt, der damals nach ihrer Rückkehr die Polizei alarmierte. Er bedauert, dass der kaum mehr Erinnerungen an den Tag hat. Die Frau sei "aufgelöst" gewesen und habe etwas von der Toilette gesagt – das Wort Vergewaltigung sei aber nicht gefallen. Die Aussage des Freundes des Angeklagten, der nicht erschienen ist und dafür 200 Euro Ordnungsstrafe ausfasst, wird verlesen. Er schildert, dass G. und eine "ältere Frau" an seinem Stehtisch vorbeigeschaut hätten und dann gegangen seien. Als G. retour kam, habe er lediglich berichtet, er habe "herumgeknutscht".

Verdecktes Gesicht

Staatsanwalt Jörgen Santin verweist in seinem Schlussplädoyer nochmals auf die Aufnahmen der Überwachungskameras. Die beiden Personen hätten das Lokal nicht gemeinsam, sondern nur zur gleichen Zeit verlassen, und G. habe nach dem Verlassen der Toilette ständig sein Gesicht mit der Hand verdeckt.

Verteidiger Wolm ruft dagegen nochmals die Widersprüche in der Aussage von Frau G. in Erinnerung. "Die Frage ist nicht die Suche nach der Wahrheit. Es gibt mehrere Wahrheiten", appelliert er an die Laienrichter. Auf den Videos sei zu sehen, dass die beiden sich absolut einvernehmlich küssen würden und G. die Frau "wie eine Braut" auf das WC trage. Der Angeklagte selbst betont in seinem Schlusswort: "Ich bin sehr gegen Gewalt an Frauen. Ich würde das nie machen."

Nach halbstündiger Beratung spricht der Senat den 27-Jährigen nicht rechtskräftig frei. R. habe keinerlei Gegenwehr gezeigt und auch keinen der anwesenden Passanten angesprochen, was naheliegend wäre, wenn sie sich von G. belästigt gefühlt hätte, begründet Klestil-Krausam. Nach dem Verlassen der Toilette sei bei R. zwar "eine Traumatisierung ersichtlich, die kann aber verschiedenste Ursachen haben", für eine strafrechtliche Verurteilung reicht es dem Senat nicht. (Michael Möseneder, 24.9.2021)