Ein Bewusstsein, dass das Land in verschiedenen (gesellschafts)politischen Fragen ernstlich gespalten ist, gibt es jedenfalls.

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Wollen Sie im Büro, vielleicht sogar im Großraumbüro, neben einem Impfgegner sitzen? Auch wenn Sie selbst geimpft sind? Denn man liest ja jetzt von "Impfdurchbrüchen", das heißt von Ansteckungen bereits vollständig Geimpfter. Der britische Gesundheitsminister ist so einer.

Die Frage stellt sich konkret, vor allem für die Mitarbeiter der Firmen, die nun allmählich aus dem Homeoffice ins Büro zurückkehren. Jeder kennt jemanden, der sich klar als Impfgegner deklariert, jeder kennt jemanden, der bei dem Thema so herumdruckst.

Jeder kennt die Situation, wenn bei einer Begegnung mit Fremden oder mit Bekannten nach längerer Pause zunächst einmal vorsichtig der Impfstatus des anderen abgetastet wird: Ob man schon geimpft sei? Da gibt es öfter ein klares "Ja, natürlich", aber nicht selten auch ein gemurmeltes "Noch nicht" und ebenfalls nicht so selten ein trotziges "Ich lass’ mich nicht impfen".

Wie hältst du’s mit Autos?

Oder, anderes Thema, anderes Problem: Sind Sie für eine Untertunnelung der Donau und des Naturschutzgebiets Lobau (mit mächtigen Zulaufbauten an beiden Enden), um neue Stadtteile Wiens für den Autoverkehr zu erschließen? Oder halten Sie das für ein völlig überholtes Konzept? Sind Sie der Meinung, dass Klimaschutz grundsätzlich eh okay ist, aber man im ländlichen Raum halt ohne Auto vollkommen aufgeschmissen ist? Oder halten Sie, wie Donald Trump, die Erderwärmung für einen von den Chinesen erfundenen Schmäh?

Corona hat Österreich gespalten. Die Frage des Klimaschutzes ist im Begriff, das zu tun. Kanzler Sebastian Kurz befeuert – wohl aus der Überlegung, dass seine ländlichen Wähler nicht ohne Auto auskommen – die Debatte gerade auf befremdliche Weise: Man könne nicht "zurück in die Steinzeit".

Die glatten Corona-Leugner und Verschwörungstheoretiker ("Ist ja nur eine Grippe", "Die wollen uns ja nur unsere Freiheit nehmen") dürften nur ein paar Prozent ausmachen. Aber schon wesentlich mehr halten die Maßnahmen der Regierung in unterschiedlichem Ausmaß für ungeeignet oder zu streng, manchmal mit Begründung, oft einfach nur so: weil man dagegen ist. Es geht so: Maßnahmenbefolger versus Maßnahmenverweigerer, junge Partypeople versus ängstliche Ältere, Stadt gegen Land.

Bist du geimpft?

Die Demonstrationen der "Querdenker" Anfang des Jahres, bei denen 10.000 und mehr Menschen mit zum Teil aberwitzigen Slogans zusammenkamen, sind abgeebbt. Auch die Impfbereitschaft hat – theoretisch – zugenommen. Dennoch sind erst etwas über 50 Prozent der impfbaren Bevölkerung voll immunisiert. Seit Sommerbeginn ließ der Zustrom zu den Impfstellen nach, obwohl genügend Impfstoff vorhanden ist. Wie groß der Anteil der harten Impfgegner in der Bevölkerung ist, kann man nicht genau ausmachen.

Aber es gibt keinen Zweifel: Die Bevölkerung ist gespalten in die Mehrheit, die sich den Stich geben lässt, und in eine Minderheit von vielleicht 15 bis 20 Prozent, die das auf keinen Fall tun will. Aus Gründen, die mit Bedenken wegen eines "unerprobten" Impfstoffs zusammenhängen – aber oft genug auch aus Staats- und Politikmisstrauen.

Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle: "Auseinanderdriften der Gesellschaft bei Einkommen, Wohlstand, Vermögen."

Eine Umfrage des Integral-Instituts, zitiert im Profil, kam im März 2021 zu folgenden Ergebnissen: "Ein diffuses Unbehagen, dass ‚die Mächtigen gegen das Volk‘ agieren, macht sich breit. Sechs von zehn Befragten meinen, man sage ihnen ‚über die Ursachen der Pandemie nicht die Wahrheit‘." Immerhin jeder Dritte glaubt, dass Impfen mehr schade als nütze (Jüngere: rund 40 Prozent). Zum harten Kern der Anhänger von Verschwörungstheorien zählt ein Fünftel der Befragten. Corona und alles, was damit zusammenhängt, ist aber nur ein Symptom für eine Spaltung des Landes. Die Bruchlinien, die Corona gezeigt hat, existieren schon länger, und sie haben oft eine politische Dimension.

Die Präsidentenfrage

Am deutlichsten zeigte sich das bei der Bundespräsidentenwahl 2016. Die Voraussetzungen hatten es in sich: Die beiden dominierenden Parteien der Nachkriegszeit spielten keine Rolle mehr. Ihre Kandidaten kamen im ersten Wahlgang auf kaum mehr als zehn Prozent. Das Duell fand zwischen zwei Außenseitern statt: dem Grünen Alexander Van der Bellen und dem freiheitlichen Rechtspopulisten Norbert Hofer. Ein Blick auf die Österreich-Karte zeigte ein massives Stadt-Land-Gefälle: Österreich, stark blau, allerdings mit grünen Einsprengseln in größeren Städten. In neun von zehn der größten Städte holte Van der Bellen die Mehrheit. Das reichte (nach Wahlwiederholung wegen Formalfehlern) zu einem glatten Sieg 54:46 Prozent.

Soziologin Martina Zandonella: "60 Prozent des unteren Drittels sagen: Die Politik behandelt mich als Menschen zweiter Klasse. Ausnahmesituationen wie die Pandemie bestärken das."

Soziologisch zeigen sich die klaren Trennungslinien. Die Mehrheit der Männer (60 Prozent) und fast alle Arbeiter wählten Norbert Hofer. Bei Menschen mit niedriger formaler Bildung war er eindeutig vorn. VdB hingegen punktete bei jungen, formal höher gebildeten und weiblichen Menschen, auch bei Angestellten und öffentlich Bediensteten. Wer Wert auf eine proeuropäische Haltung und angemessene Vertretung im Ausland legt, wählte den Grünen. Wer der Meinung war, entscheidend sei es, "die Sorgen der Menschen zu verstehen" und "gegen das politische System aufzutreten", war für den Nationalpopulisten. Und: Menschen, die der Zukunft und ihrem eigenen Leben optimistisch gegenüberstehen, wählten den liberalen Kandidaten. 73 Prozent der "Optimisten" waren für Van der Bellen. Die Pessimisten hingegen, deren Haltung von Verbitterung und geringen Zukunftserwartungen bestimmt ist, wählen rechtspopulistisch. 70 Prozent der Pessimisten waren für Hofer.

Optimisten, Pessimisten

Die Spaltung in Pessimisten und Optimisten ist wahrscheinlich die signifikanteste Veränderung der letzten beiden Jahrzehnte. Lange Zeit ging man in den entwickelten Ländern davon aus, dass der Wohlstand für alle weiter wachsen werde, dass soziale Sicherheit gegeben sei und Zukunftsoptimismus angebracht ist. Das hat sich geändert, die Gesellschaft teilt sich in Aufsteiger, Abgesicherte und Abgehängte, die Spaltung geht tiefer, hinein in die Lebenswelten des Einzelnen. Und sie hat in der öffentlichen Auseinandersetzung an Schärfe zugenommen, hauptsächlich durch die sozialen Medien, die sich als "digitale Brandbeschleuniger" erweisen. Der Ton auf Facebook, Twitter etc. ist nicht der einer zivilisierten Debatte, sondern oftmals blanke Aggression. "Flood the zone with shit" war der Rat des weit rechts stehenden Trump-Beraters Steven Bannon: die Diskurszerstörung als Mittel politischer Beeinflussung.

Die bekannte Politikwissenschafterin Kathrin Stainer-Hämmerle von der Universität Klagenfurt hat sich in einem gemeinsam mit dem Medienwissenschafter Peter Plaikner verfassten Beitrag für ein demnächst erscheinendes Buch mit dem "Verlust der Mitte und der Zerstörung des Vertrauens" beschäftigt. Gegenüber dem STANDARD fasst Stainer-Hämmerle zusammen: "Österreich war immer schon geprägt durch festgefügte Lager, in der Ersten und in der Zweiten Republik. Die individuelle Mobilität und unabhängigere Medien haben diese Milieus eher aufgeweicht. Allerdings hat der Kooperationswille der politischen Eliten seit 2000 nachgelassen. Das ist sicher auch eine Generationenfrage. Hinzu kommen die Gefahren der Radikalisierung durch die Kommunikation innerhalb der eigenen Gruppe via Social Media sowie das Auseinanderdriften der Gesellschaft bezüglich Einkommen, Wohlstand, Vermögen. Bisher hat der Sozialstaat diese Entwicklungen gedämpft."

Bisher. Aber die Tendenz zum Auseinanderdriften und die begründete oder unbegründete Furcht vor einem Abstieg sind (nicht nur in Österreich) immer stärker spürbar. Ablesbar aus dem regelmäßig vom Sora-Institut erstellten "Demokratie Monitor", in dem die Einstellungen zur Demokratie und zum Funktionieren des politischen Systems in Österreich gemessen werden.

Verschlechterung der Lage

Für 2020 zeigte der Monitor, erstellt von Martina Zandonella, eine beunruhigende Entwicklung: "Zusammengefasst berichtet ein Drittel der Bevölkerung, dass sich im Zuge der Pandemie ihre finanzielle Lage verschlechtert hat, bei 28 Prozent hat sich die psychische Gesundheit verschlechtert. Von den Auswirkungen der Corona-Pandemie besonders betroffen sind jene Menschen, deren Haushaltseinkommen im unteren Einkommensdrittel liegt und deren finanzielle Absicherung für die Zukunft gering oder gar nicht vorhanden ist."

Alarmierend aber, welche polit-psychologischen Schlüsse die "Abgehängten" daraus ziehen. Das untere Drittel sagt mit großer Mehrheit: "Wir haben den Eindruck, dass wir weniger wert sind" (60 Prozent). Und: "Die Politik behandelt mich als Menschen zweiter Klasse" (73 Prozent).

Zandonella sagt: "Je prekärer die finanzielle Situation der Menschen ist, desto geringer fällt auch ihr Vertrauen in die Demokratie aus."

Ergibt sich daraus eine Gefahr für die Demokratie? In der längerfristigen Betrachtung weist der Sora-Demokratie-Monitor eine satte Mehrheit aus (zuletzt 87 Prozent), für die Demokratie grundsätzlich die beste Staatsform ist. Es folgt ein ziemlich großes Aber: Innerhalb dessen kann sich ein konstantes Drittel zwischen 32 und 38 Prozent schon vorstellen, die Demokratie etwas autoritärer zu handhaben; rund ein Fünftel zum Beispiel mit einem "starken Führer, der sich nicht um Parlament und Wahlen kümmern muss". Dieses Phänomen ist seit Jahren, mit einem gewissen Auf und Ab, ablesbar.

Ein Bewusstsein, dass das Land in verschiedenen (gesellschafts)politischen Fragen ernstlich gespalten ist, gibt es jedenfalls: Eine Umfrage des Imas-Instituts von Ende 2019 kam zu folgendem Ergebnis: "Knapp jeder zweite Österreicher stimmt der Aussage, dass Österreich in politischer Hinsicht ein gespaltenes Land ist und sich deutliche Gegensätze in der Bevölkerung auftun, zumindest einigermaßen zu. Jeder Fünfte ist ausdrücklich – also ‚voll und ganz‘ – dieser Meinung, und rund acht Prozent äußern die diametral gegenteilige Meinung und sehen überhaupt keine Spaltung der Gesellschaft."

Aufreger Flüchtlingsfrage

Und was ist mit dem " Aufreger"-Thema schlechthin, der Flüchtlingskrise? Die Imas-Umfrage kam (Ende 2019) zu dem Schluss: "Als stärkste Bruchlinie gilt weiterhin die Zuwanderungsthematik inklusive Integration und Flüchtlingskrise. Jeder Zweite, der eine Spaltung zumindest einigermaßen stark empfindet, äußert spontan dieses Thema. Seit 2016 ist das Thema rund um Migration und Flüchtlinge aber um 15 Prozentpunkte rückläufig."

Wahrscheinlich ist das Thema zeitweise zurückgedrängt, aber im Hintergrund nach wie vor latent vorhanden. Die "Spaltung" dürfte hier auch zwischen einer großen Mehrheit liegen, die Zuwanderung problematisch sieht, und einer Minderheit, die damit humanitär und pragmatisch umgehen will.

Ein bemerkenswerter Nebeneffekt dieser Imas-Umfrage war übrigens, dass eine Mehrheit der Befragten eine deutliche Orientierungslosigkeit zeigte. Drei von fünf Österreichern sagten, dass sie in Fragen der Politik, Wirtschaft oder auch in eigenen Lebensfragen nicht mehr sicher seien, was richtig oder falsch sei. Imas schlussfolgert: "Somit liegt eine gewisse Orientierungslosigkeit im Meinungsklima vor."

Woher kommt diese Verunsicherung? Kann es sein, dass eine echte Spaltung dahintersteht? Eine bestimmte Entwicklung der Lebenswelten, ein Auseinanderdriften der verschiedenen Gesellschaftsklassen – wohlgemerkt vor dem Hintergrund des entwickelten Sozialstaates?

Der englische Publizist David Goodhart hat zwei große Gesellschaftsgruppen ausgemacht: die "anywheres" und die "somewheres". Die "anywheres" können theoretisch überall wohnen, meist in einer Großstadt, ihre Berufe erlauben ihnen, ihr Geld überall zu verdienen. Sie sind die gut bezahlten mobilen Angestellten, Künstler, Kreative, (Finanz-)Dienstleister. Sie sind liberal und multikulturell. Sie sind die Gewinner der Globalisierung.

Die "somewheres" müssen (und wollen meist auch) an einem Ort bleiben. Oft in Kleinstädten, im ländlichen Raum. Sie sind die Verlierer der Globalisierung, denn die lokale Fabrik ist abgewandert.

Eine Studie der Universität Münster spricht hingegen von "Verteidigern" und "Entdeckern". "‚Verteidiger‘ sehen nur im Land Geborene als zugehörig und wünschen ethnische und religiöse Homogenität. Durch Fremde fühlen sie sich bedroht und sich selbst als benachteiligt. Mit der Demokratie sind sie unzufriedener und misstrauisch gegenüber politischen Institutionen. ‚Entdecker‘ hingegen sehen Zuwanderung und Vielfalt als Chance. Sie plädieren für gleichberechtigte Lebenskonzepte und sehen sich selbst gut repräsentiert. Sie sind zufrieden mit der Demokratie und vertrauen den Institutionen."

Verteidigen oder entdecken?

Die einen neigen zu Verschwörungstheorien und zur Wahl von populistischen Parteien, haben eher antipluralistische Einstellungen, leben eher auf dem Land als in der Stadt. Die anderen haben höhere Bildung und höheres Einkommen, weltoffenere und liberalere Einstellungen.

Dazu eine wichtige generelle Anmerkung von Kathrin Stainer-Hämmerle: "Für mich als Politikwissenschafterin ist am interessantesten, dass Zukunftsperspektiven und Ängste entscheidender scheinen als tatsächliche Veränderungen des sozialen oder wirtschaftlichen Status. Diese Entwicklung wird durch das Verhalten der politischen Eliten, populistische Ansätze und Methoden in Parteien, beschleunigt."

Bilden sich viele Bürger also die Verschlechterung der Situation also nur ein? Sind die Abstiegsängste realer als der tatsächliche Verlust an Einkommen, sozialer Stellung und Zukunftsperspektive? Bis zu einem gewissen Grad trifft das wohl zu. Aber auch Einbildungen und Projektionen können politische Realitäten schaffen – und eine solche Realität ist der Eindruck, das Land sei gespalten und man selbst sei durch die Schuld irgendwelcher dunkler Kräfte im Lager derer gelandet, denen es schlechter geht, die als "Menschen zweiter Klasse" behandelt werden und auf die die "sogenannten Eliten" herabblicken.

Die türkise "neue Volkspartei" von Kurz hat einen Teil der Verunsicherung aufgefangen, indem suggeriert wurde, das "Neue" werde die Lähmung der alten großen Koalition beenden. Hunderttausende rechtspopulistische Wähler konnten dadurch herübergezogen werden. Die Frage ist, ob sich diese Hoffnungen in einer andauernden Krise erfüllen.

Die Erfahrungen der Menschen im ökonomisch schwächsten Drittel "sind geprägt von Ungleichwertigkeit und Abwertung, Zugangsdiskriminierung und dem Ausschluss von (wirksamer) politischer Beteiligung. Das gilt ganz besonders auch in der Pandemie. Ist es uns Ernst mit der Demokratie, können wir das nicht länger ausblenden", sagt Sora-Forscherin Zandonella. Das ist der Befund.

Aber noch nicht die Antwort auf die Frage: Wie holt man die Verbitterten wieder zurück? (Hans Rauscher, 1.8.2021)